Ihre Arme wie Flügel schlagend, dreht sich Mirjam Helfenberger hüpfend im Kreis, ihr Gesicht verdeckt von einer bunten Vogelmaske. Nathan, einer der Schüler der 3. Klasse, hat die Bewegung vorgemacht, Helfenberger imitiert ihn jetzt. Spiegelübung. In Kürze werden es ihnen die restlichen Kinder gleichmachen. Ein Freitagmorgen im Musikzimmer des Schulhauses Steinibach im bernischen Zollikofen: Hier findet heute keine gewöhnliche Schule statt. Mirjam Helfenberger ist Malerin und Musikerin. Mit ihr tanzen und singen die 18 Schülerinnen und Schüler, trommeln und schauspielern. Denn heute ist Mus-e-Unterricht.
Seit über 25 Jahren ermöglicht der Verein Mus-e Kindern, sich in der Schule künstlerisch zu betätigen. Der berühmte Violinist Yehudi Menuhin gründete das Programm 1993 zusammen mit Werner Schmitt, ehemaliger Leiter des Konservatoriums Bern. Die Idee: Kunstschaffende arbeiten ein halbes oder ein ganzes Jahr lang mit einer Klasse, vermitteln verschiedene Kunstformen. Schulkinder sollen so bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit unterstützt werden. Mittlerweile kommen Kinder in über einem Dutzend Länder in den Genuss von Tanz-, Musik-, Theater- und Kunstunterricht.
In Zollikofen haben an diesem Morgen niedrig hängende Wolken und dichter Regen die Landschaft grau eingefärbt. Im Musikzimmer vom Schulhaus Steinibach aber ist es farbig. Zu Igor Strawinskys «Feuervogel» tanzen die Schulkinder – über den Gesichtern ihre selbstbemalten Vogelmasken.
Vertrauen am eigenen Ausdruck fördern
Mirjam Helfenberger arbeitet seit letztem August mit der Klasse. Schulleiterin Beatrix Herren, die den Unterricht zusammen mit der Künstlerin bestreitet, erhofft sich eine beruhigende und integrative Wirkung: Der Anteil an Migrantenkindern ist hoch in der Klasse, es gab oft Streit.
Immer zu zweit malten die Kinder mit Mirjam Helfenberger zunächst Bilder für die kleine Tischbühne. Eine Savannenlandschaft, ein Wildschwein im Schneefall, eine Vogelfamilie im Nest – alles für die Theateraufführung im Mai. Für die Adaption des Kinderbuchs «Rotschwänzchen – was machst du hier im Schnee?» lernt die Klasse derzeit die Tänze und Lieder. Seit gut acht Jahren arbeitet Künstlerin Helfenberger für Mus-e: «Mir macht es Freude, wenn die Kinder Vertrauen am eigenen Ausdruck erhalten.»
Das Angebot von Kunstvermittlung für Kinder ist breit. Museen bieten Kinder-Workshops an und Privatpersonen Malkurse. Von Kantonen, Vereinen und Stiftungen gibt es eine Reihe von schulischen und ausserschulischen Programmen. Im Kanton Aargau vermittelt «Kultur macht Schule» unter anderem Kunstschaffende für den Projektunterricht an Schulen.Der Verein Konferenz Bildschulen Schweiz wiederum fördert in verschiedenen Kantonen Gestaltungsschulen, die Kindern und Jugendlichen ausserschulische Kurse anbieten.
Beim Schweizerischen Verband Künste für Kinder und Jugendliche (kkj) will man einen Überblick über diese Programme bieten. Seit bald 20 Jahren setzt er sich für die Kunstvermittlung in der Schule ein. Und versucht, qualitativ hochwertigen Angeboten eine Plattform zu geben. «Wichtig ist vor allem die Kontinuität», sagt Verena Widmaier vom kkj. «Die Kinder und Jugendlichen sollen in einem Entwicklungsprozess professionell begleitet werden.» Das heisst, Kurse dauern mindestens zwei Monate.
Teile Skandinaviens mit gutem Beispiel voraus
In Ländern wie Finnland oder Schweden ist die künstlerische Betätigung schon längst Teil des Schulalltags. In der Schweiz unterzeichneten vor neun Jahren 200 Personen aus Kultur, Bildung und Politik unter dem Patronat der Schweizerischen Unesco-Kommission das Manifest «Arts&Education». Dieses fordert bis 2020 einen «quantitativen und qualitativen Sprung in der kulturellen und künstlerischen Bildung im Schweizer Bildungssystem». Auf das Ziel bewegt sich die Schweiz nur in kleinen Schritten zu. Pro Helvetia zog sich mit dem Kulturfördergesetz von 2009 aus diesem Bereich zurück. Und die Kunstvermittlung ist auch nicht über die Verfassung abgestützt, wie es die Musikbildung seit dem Musikschulgesetz von 2012 ist. «In den Köpfen ist verankert, dass ein Angebot wie Kunstbildung nichts kosten darf», sagt Verena Widmaier. Dabei wäre eine solche in ihren Augen wichtig: «Kinder lernen, etwas selbständig zu entwickeln, einen Entstehungsprozess durchzuhalten, eigene ästhetische Erfahrungen zu machen – sie werden in ihrer Persönlichkeit gestärkt.»
Das Geräusch von Rasseln füllt das Musikzimmer im Schulhaus Steinibach; die zweite Mus-e-Lektion an diesem Freitag ist angebrochen. Berufe-Raten. In zwei Gruppen haben sich die Kinder vorbereitet, jetzt stellt die eine Hälfte einen Arbeitsablauf pantomimisch dar. Mit den Armen machen die einen Walzbewegungen, während die anderen mit den Rasseln den Lärm der Druckereimaschinen imitieren. Es dauert etwas, bis die restlichen Schüler auf die Lösung kommen: Die Walzen drucken den Artikel, den der Journalist zuvor geschrieben hat.
Zum Abschluss das «Feuerlied»
Zum Abschluss singt die Klasse noch einmal. «Feuerlied» nennen sie es. Mirjam Helfenberger spielt Gitarre, Schulleiterin Beatrix Herren auf der Djembé. Dumm-dumm-ta, dumm-dumm-ta – der Rhythmus stammt von Queens «We will rock you», der Text erinnert im Klang an eine afrikanische Sprache. Die Klasse trommelt auf den Holzhockern. Und dann ist der Unterricht auch schon um. Doch die Schülerinnen und Schüler der 3. Klasse im Steinibach singen weiter.
Angebote Kunstvermittlung
Verein Mus-e Schweiz
www.mus-e.ch
Schweizerischer Verband Künste für Kinder und Jugendliche (kkj): www.kkj.ch