Sie kannten kein Pardon – oder vielleicht doch? Ein Zeuge beschreibt, wie die Wikinger im Jahr 837 über die heutige französische Stadt Nantes herfielen: «Die Heiden mähten die gesamte Menge von Priestern, Klerikern und Laien nieder.» Allerdings fügt der Chronist an, «ausser denen, die gefangen wurden». Der schwedische Historiker Anders Winroth will mit diesem Zeugenbericht belegen, dass die Wikinger auf ihren Raubzügen zwar rücksichtslos vorgingen, aber nicht ganz so brutal waren, wie man meinen könnte. Andernfalls hätten sie keine Gefangenen gemacht.
Winroth beschreibt diesen Raubzug in seinem neuen Buch «Die Wikinger – Das Zeitalter des Nordens». Sie bestimmten im frühen Mittelalter bis um die erste Jahrtausendwende unserer Zeitrechnung Europa massgeblich mit. Die Nordländer reisten auf ihren Schiffen von Skandinavien nach Osten bis weit ins heutige Russland und nach Westen bis nach Nordamerika. Immer waren sie auf der Suche nach Beute, die sie in ihre heimatlichen Siedlungen zurückbrachten.
Mit Familie unterwegs
Aber das Bild der brandschatzenden Rohlinge ist laut Winroth unvollständig: «Sowohl historische als auch genetische Erkenntnisse legen es nahe, dass die Wikinger ihre Familie oft mitbrachten.» Sie siedelten sich auf den Britischen Inseln an, vermischten sich mit der einheimischen Bevölkerung und veränderten die lokale Sprache. Die Wikinger liessen sich auch weiter westlich nieder – im heutigen Island, Grönland und in Kanada: «Vermutlich, um neue Holzquellen zu erschliessen, brachen sie, kurz nachdem Grönland besiedelt worden war, nach Westen und Süden in Richtung des nordamerikanischen Kontinents auf.»
Die Wikinger in Skandinavien waren ein lokal organisiertes Volk mit zahlreichen Stammesfürsten. Der erbeutete Reichtum bestimmte ihren Rang in der Hierarchie, und er sicherte ihnen die Loyalität der Krieger, indem diese mit generöser Bezahlung rechnen konnten. Die Herrscher mussten grosszügig sein und darauf wiederum basierte das im Vergleich zum restlichen Europa fortgeschrittene Handwerk und Kunstverständnis. Salopp ausgedrückt: Die Opfer der Wikinger bezahlten den Preis für deren feinsinniges Kunstverständnis.
Aber diese Opfer profitierten zumindest indirekt ebenfalls von den Erfolgen der Wikinger, denn sie brachten wirtschaftliches Wachstum. Die Wikinger begründeten mit ihrem Reichtum ein weitverzweigtes europäisches Handelsnetz, das bis nach Asien reichte, wie Winroth schreibt: «Wie katastrophal sich auch ein Wikingerüberfall jeweils im Einzelfall für die Betroffenen ausgewirkt haben mag, so bestand der Gesamteffekt überraschenderweise darin, die Wirtschaft anzukurbeln.» Handel und Kommerz waren in Europa nach dem Ende des Römischen Reichs erlahmt, die Wikinger brachten neue Impulse, wie zahlreiche skandinavische Ausgrabungen mit Münzen oder Schmuckstücken aus Britannien und Kleinasien zeigten.
Gegen die Vorurteile
Die Wikinger handelten nicht nur mit Gütern. Der Sklavenhandel war weit verbreitet, vor allem in Osteuropa: «Die Gefangenen waren für den Sklavenmarkt bestimmt, es sei denn Freunde und Verwandte bezahlten Lösegeld.»
Anders Winroth hat ein anschauliches, populärwissenschaftliches Buch über ein Volk geschrieben, von dem wenig bekannt ist und über das viele Vorurteile verbreitet sind.
Ab dem Jahr 1000 wurden die Wikinger sesshafter. Die lokalen Stammesfürsten standen nach und nach unter dem Einfluss von Herrschaftshäusern in Schweden, Norwegen und Dänemark. Es bildeten sich im Norden mittelalterliche Gesellschaftsstrukturen heraus, die auf dem gesamten Kontinent verbreitet waren. Dafür überzogen die Normannen aus Nordfrankreich künftig Europa mit ihren Eroberungen – und wehe, wenn sich ihnen da ein verirrter Wikinger in den Weg stellte.
Anders Winroth
«Die Wikinger – Das Zeitalter des Nordens»
368 Seiten
(Klett Cotta 2016).