Die drei Gleise enden mitten auf dem Kiesplatz. Zu sagen, sie führten nirgends mehr hin, wäre dennoch nur die halbe Wahrheit. Zwar rollen hier keine Lokomotiven mehr ins Depot – das ist längst abgerissen. Dafür weisen die Schienen jetzt den Weg zur «Plateforme 10», dem symbolischen zehnten Perron des Bahnhofs Lausanne, dem neuen Museumsquartier der Waadtländer Hauptstadt.
Mitte Juni hat Lausanne den neuen Stadtteil nach 15 Jahren Planung und Bau der Öffentlichkeit übergeben. Dort, wo einst ein SBB-Depot und Abstellgleise standen, finden sich jetzt ein Boulevard, Arkaden mit Galerieräumen, Cafés und Restaurants sowie zwei neue Museumsbauten. Letztere beherbergen gleich drei kantonale Museen: Das Kunstmuseum (MCBA), das Museum für Design und angewandte zeitgenössische Kunst (Mudac) und das Museum für Fotografie (Photo Elysée).
Subtil spielt das Gebäude mit der Ortsgeschichte
Das neue Kunstquartier erreicht man in wenigen Schritten vom Bahnhof aus. Noch verstellen Baucontainer den Eingangsbereich. Das Areal selbst versprüht trotzdem bereits ein städtisches Flair. Ein langer Boulevard verleiht dem Quartier Tiefe. Zur Rechten: Arkaden und Chausseebäume. Zur Linken: Das MCBA. Der schlanke, rechteckige Bau erstreckt sich über die Länge der früheren Lokomotivhalle. Seine Finessen legt das eindrückliche Gebäude des italienisch-katalanischen Architekturbüros Barozzi Veiga erst bei genauerer Betrachtung offen. Zur Boulevardseite hin lockern einzelne Fensterpartien und eine Lamellenfassade den Monolithen auf. Subtil spielt das Gebäude mit der Geschichte des Orts. Seine Backsteinmauern sind ein Echo einstiger Industriearchitektur. Und an der Stirnseite manifestiert sich die Vergangenheit des Areals wie eine Geistererscheinung: Ein feines Edelstahlprofil zeichnet die Umrisse eines Depotflügels nach. Auf der Gleisseite schliesslich lugt ein Stück der alten Querhalle aus dem Museumsbau. Das einzig erhaltene Originalteil des Depots erinnert zusammen mit dem Eingang auf der gegenüberliegenden Seite an ein Kirchenquerschiff.
Innen wähnt man sich tatsächlich in einer Kathedrale. Der überhohe Raum wird dominiert von einer einladenden Freitreppe und dem grossen Bogenfenster der alten Querhalle. Oben an der Treppe gibt das Fenster den Blick frei auf Züge, den Lac Léman, die Savoyer Alpen. Zu den Ausstellungsräumen gelangt man nun über eine lange Treppe zur Linken.
Zugfahrt durch die Kunstgeschichte
Im zweiten Stock ist aktuell ein Teil der Wechselausstellung «Train Zug Treno Tren» zu sehen, mit der die drei kantonalen Museen die Eröffnung des neuen Quartiers und dessen Geschichte feiern. Im MCBA lädt «Imaginäre Reisen» zur Zugfahrt durch die Kunstgeschichte: Die Futuristen und der Geschwindigkeitsrausch, Edward Hoppers verwaiste Gleisstränge, Gino Severinis verdichtete Zugreise durch Europa.
Weiter geht es zum zweiten Museumsbau. Einige Meter den Boulevard runter steht ein weiterer verspielter Gruss an die Vergangenheit. Xavier Veilhan und Olivier Mosset haben hier ihr monumentales «La Crocodile» abgestellt. Die Eisenskulptur zeigt eine Krokodil-Lokomotive in den Originalmassen. Doch die Ikone ist abstrahiert, wirkt wie ein Spielzeug.
Viel Leben auf der «Plateforme 10»
Derweil lebt die «Plateforme 10» bereits. Unter den Sonnenschirmen des Arkaden-Cafés verweilen Passanten. Velofahrer düsen immer wieder den Boulevard entlang und die neue Passerelle rauf, die das Bahnhofsquartier mit dem Westen von Lausanne verbindet. Rege wird auch die Treppe genutzt, die das Museumsquartier zur Oberstadt hin öffnet.
Kleiner als das MCBA, aber nicht minder charismatisch, präsentiert sich der gemeinsame Bau von Mudac und Photo Elysée. Der weisse Kubus der portugiesischen Architekten Francisco und Manuel Aires Mateus spiegelt das zweigeteilte Innere. Wie eine tektonische Verwerfung zieht sich ein Fensterband im Zickzack rund um den Bau und bricht dessen Symmetrie auf. Innen wird dieses Motiv weitergeführt: Im verwinkelten Foyer wähnt man sich zwischen zwei Gesteinsschichten. Der Raum erinnert an den überlegten Modernismus, der ab den 1950ern im heissen Kalifornien entstand. So gelangt an diesem Sommertag von der grellen Sonne draussen nur ein sanftes Licht hierhin. Chromstahl, heller Sichtbeton und der weisse Boden wirken kühlend, die niedrig gewölbte Decke schenkt Geborgenheit.
Die Ausstellungsräume im Ober- und Untergeschoss werden den jeweiligen Anforderungen von Mudac und Photo Elysée gerecht. Oben ist es dank dem lichtdurchlässigen Dach hell. Aktuell residiert dort «Treffen wir uns am Bahnhof». In der Schau erzählen Kunstwerke und historische Objekte vom Bahnhof als Ort der Begegnungen.
Für immer ein Ort der Eisenbahn
Unten wiederum dominiert künstliches Licht. Doch begrünte Lichtschächte und Innenhöfe stellen die Verbindung zum Draussen her. Hier ist mit «Freie Bahn» der dritte Teil der Eröffnungsausstellung zu sehen. Fotos und Gemälde schlagen den Bogen zwischen dem Ausbau des Schienennetzes und den Experimenten der künstlerischen Avantgarde. Oder erzählen wie das Plakat des Simplon-Orient-Expresses von der Bedeutung der Bahn in der Schweiz.
Auf dem Boulevard vor dem Museum, etwas später: Silbrig-rot fährt gerade ein Hochgeschwindigkeitszug von Trenitalia in den Bahnhof Lausanne ein. Glamourös wie der Simplon-Orient-Express ist dieser Zug wohl nicht mehr. Ins mondäne Mailand bringt er einen allemal. Von den Gleisen her weht ein warmer Wind, bläst den Geruch von sonnenerhitzten Bahnschwellen hinüber. Lausannes neues Museumsquartier wird immer ein Ort der Eisenbahn bleiben.
Train Zug Treno Tren
Bis So, 25.9. MCBA, Mudac und Photo Elysée Lausanne
www.plateforme10.ch