Kein leuchtender Rauch, keine wummernden Bässe, kein knalliges Kostüm: Höchstens das halb ausgewachsene Blau in Livia Ritas schulterlangen, blonden Haaren könnte ein Hinweis auf die magischen Welten sein, die sie erschafft. Beim Besuch in ihrem Atelier nahe Scuol taucht am Himmel plötzlich ein Ring um die Sonne auf, der wie von einem anderen Planeten wirkt. Gemeinsam staunen wir über den «Heiligenschein» aus gefrorenen Eisteilchen. Nur wenige Meter vor dem Atelier, das die 28-jährige Exil-Toggenburgerin im Künstlerhaus der Fundaziun Nairs bezogen hat, rauscht der Inn stoisch dahin. In der Ruhe des Unterengadins werkelt Livia mit ihrem musikalischen Partner, dem Briten Toma, an der Zwischenwelt «Fuga Futura».
Zu jedem Song eine Kreatur erschaffen
In der Ausstellung, die bald in der Kunsthalle Wil zu sehen ist, erweckt die Künstlerin diese Welt zum Leben. Dann finden über Jahre gewachsene Musik, Skulpturen, «ArtFashion», Spielkarten, ein Virtual-Reality-Konzert und Musikvideos zu einer installativen Performance zusammen. Obendrauf kreiert Livia Rita vor Ort im Wiler Ausstellungsraum kontinuierlich weiter. Die Welt soll in Bewegung bleiben, wie sie sagt: «Kunst soll nicht fertig und tot, sondern lebendig sein und weiterwachsen.» Der Raum wird zum Habitat, das die Kunstschaffenden bewohnen.
Wie Stalagmiten türmen sich draussen vor dem Atelier Objekte aus farbig besprühtem Bauschaum und Kerzenwachs ne-ben letzten Schneeflecken auf. Eine Reihe Oktopus-ähnlicher Stücke entstand, als Livia gekochte PET-Flaschen in den Schnee goss. Sie sind Requisiten für die Performance-Filme zu einer der elf Kreaturen, die ihre Zwischenwelt bevölkern. Naturlatex und Perlen – die «Rüstung» der Figur «Diabolica Raver» wirkt auf sonderbare Weise menschlich und zugleich ausserirdisch. Die Figur steht fürs «Aktivieren, aus sich rauskommen und den Rebellen in sich wecken» und ist Teil von Livia Ritas Debütalbum: Zu jedem Song hat sie eine Kreatur mit Stärken, Verwundbarkeit und Zaubersprüchen erschaffen. Auf eigens gedruckten Spielkarten werden deren Identitäten ersichtlich.
Mal sphärische, dann wieder von wummernden Bässen getragene elektronische Beats finden auf dem Album zu zeitgenössischen Sounds zusammen. Getragen wird alles von Texten, die über ein Jahrzehnt entstanden sind. «Das Material hat mich begleitet und ist mit mir gewachsen; qualitativ und inhaltlich, von haarsträubendem Kitsch zu Gesellschaftskritik», sagt die Künstlerin.
Zwischen Zürich, London, Nesslau und Scuol
Früher habe sie versucht, alle glücklich zu machen. Das sei heute nicht mehr nötig. Ihre Kreaturen sind Teil der eigenen Identität geworden, lassen sich wie eine Haut über den Körper ziehen und wieder abstreifen. Livia Rita springt im Gespräch blitzschnell vom Schweizerdeutschen ins Englische und zurück. Gefühle wie Liebe und sprudelnde Ideen eher auf Englisch, harte Fakten und Erinnerungen an die Jugend auf Deutsch.
Aufgewachsen in einer Pädagogenfamilie in Nesslau, zog es sie bald raus aus dem «engen Toggenburg». Während ihrer Maturaarbeit habe sie erstmals das Schaffensfieber gepackt. Statt der zwei geforderten Kostüme stellte sie eine Modeschau mit 38 Outfits auf die Beine. Über Stationen an der Textilfachschule in Zürich und Gesangs- und Tanzlektionen in Paris landete sie schliesslich am Traumziel London, wo sie Schauspiel studierte. Es folgten Schauspieljobs, doch mit der grossen Rolle klappte es – vermutlich des «seltsamen» Dialekts wegen – nie. Als sie aber die Zusage für ein «Open Lab» im Barbican Kulturzentrum in London bekam, wuchs das Selbstvertrauen: «Ich spürte, dass man mir und meinen eigenen Ideen vertraute», sagt die Künstlerin rückblickend. Die Performance-Show «Rewild» entstand – und ambitiöse Projekte nahmen ihren Anfang.
Um Zeit und Ruhe zu haben, bezogen Livia und Toma zwischenzeitlich den Estrich im Elternhaus in Nesslau. Drei Jahre ist das her, und so lange dauert auch die Arbeit am Album. Dazwischen immer wieder Performance-Shows und Künstler-Aufenthalte in der ganzen Schweiz. 2020 wurde die Arbeit in London abrupt vom Lockdown beendet. «Ich bin nicht monogam in Bezug auf Orte, an denen ich lebe», beschreibt sie ihr aktuelles Leben zwischen Zürich, London, Nesslau und Scuol.
Livia Ritas Traum vom Palais de Tokyo in Paris
Gerne driftet das Künstlerpaar im Gespräch ab. Und kehrt von sich auflösenden Musikgenres und der Genderthematik auf wundersame Weise zurück zum Kern der aktuellen Arbeit: der lebendigen Zwischenwelt mit ihren sich ständig wandelnden Kreaturen. Livia will Kategorien über den Haufen werfen. Sie möchte neue Identitäten und Welten schaffen, starre Grenzen aufbrechen. Bald werde sie sich wohl nicht mehr als Frau identifizieren: «Solche Kategorien repräsentieren nicht mehr, wie wir uns fühlen», erklärt sie. Sie will herausfinden, was hinter Kategorisierungen steckt. Und das tut sie in ihrer Kunst.
Wachs und Haare der Schwester, Naturlatex und mit Blut verschmiertes Silikon: Wie halbtransparente Häute hängen im Atelier im oberen Stock Objekte an rohen Ketten von der Decke. Runde, gemächlich rotierende Spiegel und eine mit Silberfolie überzogene Wand öffnen den Raum und spiegeln die Besucher unnatürlich verzerrt. Fluoreszierend leuchtende Gebilde scheinen aus dem Boden zu wachsen. Allesamt Requisiten für Performance-Videos und Teil der «Fuga Futura»-Welt.
Bald treffen sich Livia und Toma in Zürich mit Tänzerinnen und Filmstudenten, um mit einer 360-Grad-Kamera ein Konzert aufzuzeichnen. In der Ausstellung kann dieses, ebenso wie eine eigens programmierte Game-Welt, mit Virtual-Reality-Brillen erlebt werden. Und wovon träumt die Künstlerin insgeheim? Irgendwann mal im Palais de Tokyo in Paris auszustellen. Livia Ritas forderndes, wuchtiges und zuweilen verrücktes Werk würde dort definitiv reinpassen.
CD
Livia Rita
Fuga Futura
Erscheint am Fr 11.6.
Ausstellung
Fuga Futura
Do, 6.5.–So, 6.6.
Vernissage mit installativer Performance:
Sa, 8.5., ab 16.00 Kunsthalle Wil SG
Sesselilift Modeschau
Sa/So, 15.5./16.5.
Sa/So, 22.5./23.5.
(je nach Wetter)
Wolzenalp Krummenau SG
Konzerte
Do, 10.6. & Fr, 11.6. Jew. 21.00 Rote Fabrik Zürich
www.liviarita.com