Sie schlug sich im Pariser Viertel Montparnasse als Prostituierte durch. In jener Gegend, in der Alberto Giacometti auf seinen nächtlichen Streifzügen flüchtige Bekanntschaften aufgabelte. Die aus der konservativen französischen Provinz stammende Caroline hiess eigentlich Yvonne-Marguerite Poiraudeau und besuchte regelmässig die Bar Chez Adrien, wo sie Alberto Giacometti kennenlernte. Die beiden wurden eine Art Liebespaar, wiewohl sie Jahrzehnte jünger war als er. Giacometti war damals, im November 1959, 58 Jahre alt, sie 21. Ein Foto aus jener Zeit zeigt die beiden an einem Kneipentisch. Er mit seinem zerfurchten Gesicht schaut sie etwas misstrauisch an. Ihr Lächeln wirkt etwas verhalten, als erwarte sie jeden Moment, eine tief greifende Erkenntnis von ihm zu hören.
«Das letzte Modell» erzählt
Die knapp sieben letzten Jahre Giacomettis standen im Zeichen von Caroline, sofern er neben seiner Kunst überhaupt einen Menschen an sich herankommen liess. Der französische Publizist Franck Maubert spürte die alte Frau in Nizza auf und sprach mit ihr über diese Vergangenheit: «Caroline – Alberto Giacomettis letztes Modell» heisst das jetzt auf Deutsch erschienene Bändchen über diese Begegnung. Es erschliesst zwar keine grundlegend neuen Erkenntnisse über den wohl grössten Schweizer Künstler. Aber es illustriert das prekäre Leben des besessenen Gestalters in Montparnasse, jenseits aller bürgerlichen Konventionen: Er arbeitete unter der Protektion seines Bruders Diego tagsüber wie ein Berserker an seiner Kunst in der Rue Hippolyte-Maindron, unweit des Friedhofs Montparnasse.
Das Haus steht heute noch, ist allerdings mit einer Mauer und Verschlägen vor neugierigen Blicken geschützt. Giacometti war mit jedem Handgriff am Verzweifeln, immer mit sich und dem Ergebnis im Hader. Spät-abends zog er auf seine abenteuerlichen Touren, kam zu einem Frühstück ins Café du Dôme und ging schlafen, bis die Plackerei von Neuem losging.
Eine tragische Künstlerbiografie
Der Kinofilm «The Final Portrait» von Regisseur Stanley Tucci mit dem brillanten Geoffrey Rush in der Hauptrolle illustriert diesen fast selbstzerstörerischen Kampf mit sich selbst. Wenn es um seine Arbeit ging, kannte Giacometti keinen Spass, weder mit sich noch mit seinen Modellen. So wie der Amerikaner James Lord die Tyrannei des Künstlers erduldete, ergab sich auch Caroline in ihr Schicksal.
Caroline erinnerte sich laut Buchautor Maubert fast rührselig an die nächtlichen Begegnungen mit Giacometti, nachdem die beiden aneinander Gefallen gefunden hatten: «Wir gingen, wohin die Schritte uns trugen, leicht betrunken. Er redete über alles, und ich hörte ihm zu, und bis zum Schluss habe ich ihm gern zugehört.»
Sie bewunderte ihn und konnte sich nicht vorstellen, weshalb ihr ein Mann wie dieser zugetan war. Giacometti liebte Caroline seinerseits, zum Entsetzen seiner Frau Annette, mit der ihn allerdings seit Jahren nicht mehr viel verbunden hatte.
Mit «Caroline» zum grossen Erfolg in London
Die Beziehung mit Caroline war ebenfalls konfliktgeladen, denn sie war sehr unkonventionell. Caroline liess sich manchmal tage-, besser nächtelang, nicht blicken, zog mit ihren Freiern umher oder genoss einfach das Leben einer unabhängigen Frau. Giacometti schien dies zu verstehen, auch wenn er jeweils stundenlang in «Chez Adrien» auf sie warten musste.
Caroline konnte anspruchsvoll sein. So wünschte sie sich einen schicken Sportwagen von Giacometti. Er, der sich nicht viel aus Geld machte, blätterte es hin – zur Empörung seines Bruders Diego und seiner Frau Annette. Allerdings profitierte Giacometti selbst von dieser Anschaffung, denn Caroline nahm ihn in der Folge auf Spritztouren mit, welche die beiden in vollen Zügen genossen.
Vor allem aber profitierte Giacometti künstlerisch von Caroline. Sie sass ihm wie James Lord stundenlang Modell: Als gereifter Künstler malte er Porträts, die für Generationen von bleibendem Wert sind – mit zurückhaltender Farbwahl und umso raffinierterem Strich. Er zeigte sie mit grandiosem Erfolg in der Tate Gallery, unklar ist, ob Caroline wusste, dass sie damit zur Berühmtheit wurde.
Der französische Lyriker René Char jedoch erkannte die Genialität dieser Bilder: «An einem Spätnachmittag im April 1964 enthüllte mir der despotische Adler, der kniende Hufschmied, unter seinen wie Funken sprühenden Beleidigungen auf dem blossen Bodenbelag des Ateliers das Gesicht Carolines. Das auf Leinwand gemalte Gesicht – nach wie vielen Kratzern, Verletzungen und Blutergüssen – ist als typisches Liebesobjekt das Ergebnis einer grossen Leidenschaft.»
Erinnerungen an den Besuch am Totenbett
In den 1960er-Jahren war Alberto Giacometti ein kranker Mann, er verstarb 1966 im Spital Chur. Caroline besuchte ihn, sie erinnerte sich auch an diese letzten Stunden: «Mir ist klar geworden, dass er uns verliess …, ja, er hat versucht mich anzulächeln …» Wahr oder nicht, die Geschichte geht einem bis heute ans Herz. Ebenso wie das Schicksal von Caroline, die kurze Zeit nach der Begegnung mit Franck Maubert in Nizza – vergessen von allen – verstarb.
Buch
Franck Maubert
«Caroline – Alberto Giacomettis letztes Modell»
106 Seiten
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer (Piet Meyer 2017).