Als Ramon Casas 1890 sein Bild «Intérieur du Moulin de la Galette» malte, brach er gleich mehrere Tabus. In neuartig kräftigen Farben porträtierte der Katalane in seiner Pariser Wahlheimat zwei Frauen, die sich in Gesellschaft im Innern eines Restaurants hemmungslos dem Alkoholkonsum hingeben. Zwar hatte schon Pierre-Auguste Renoir demselben Etablissement 1876 ein Bild gewidmet. Dieses allerdings zeigte in impressionistischer Luftigkeit eine bourgeoise Festgesellschaft im Garten der «Galette».
Einsame Trinkerinnen
Die Frauen bei Casas dagegen wirken heruntergekommen, ja verzweifelt. Und gesellen sich zu anderen einsamen Trinkerinnen auf Bildern von Edgar Degas («L’Absinthe», 1875/76), Henri de Toulouse-Lautrec («A la Bastille», 1889) oder Alexis Mérodack-Jeanneau («Femme à l’absinthe», 1906). All diese Maler zählten zu jener Kolonie, die Ende des 19. Jahrhunderts vom Pariser Montmarte aus die Kunstwelt revolutionierte.
In ihrem Bildband «Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900» widmen Ingrid Pfeiffer und Max Hollein diesem Kraftort der modernen Malerei eine so umfassende wie erhellende Darstellung. Das Buch ist als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main erschienen. Diese zeigte den Montmartre «als massgeblichen Kristallisationsort für die neuesten künstlerischen Tendenzen um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert», schreibt Kunsthalle-Direktor Hollein im Vorwort. Ausstellungskuratorin Pfeiffer ergänzt in ihrer Einführung: «Das besondere topografische, soziale und historische Umfeld dieser damals verrufenen Gegend trug wesentlich dazu bei, dass sich einige der bedeutendsten Künstler der Moderne auf dem Montmartre angesiedelt haben.»
Trampeln sich am Hügel der Kirche Sacré-Cœur heute die Touristen auf den Füssen herum, um einen Blick auf das «authentische Paris» zu erhaschen, glich das Montmartre-Quartier um die vorletzte Jahrhundertwende eher einer Favela. Auf der «Butte», wie der Hügel hiess, standen einfache Bretterbuden. Die dahinterliegende Ebene des «Maquis» war sumpfig und mit Gestrüpp überwachsen. In diesem «Geschwür der Armut», wie der Kunsthistoriker Jean-Paul Crespelle einst schrieb, lebten jene, die in der mondänen Haussmann-Cité keinen Platz fanden: Arbeiter, Kleinganoven, Wäscherinnen und Prostituierte.
Zu ihnen gesellten sich ab den frühen 1880er-Jahren Künstler aus der Stadt und allen Landesteilen sowie Ausländer wie die Spanier Ramon Casas und Santiago Rusiñol, die später ihren Landsmann Pablo Picasso nach Paris lockten. Hier fanden sie günstige Ateliers, hier entdeckten sie zudem eine soziale Anderswelt zur städtischen Belle Epoque, eben jene Sphäre der Armen und Ausgestossenen, von der eine exotische Faszination ausging. Viele Künstler hatten sich mit der Pariser Commune von 1871 solidarisiert und wollten deren soziopolitische Ideen weiterleben. Auf der Butte und im Maquis frönten sie einer selbstgewählten Einfachheit.
Eines der grossen Verdienste des Kunstbands ist es, dass Klischees wie jenes des Künstlers als «Hunger leidendem Bohémien» relativiert und in historische Zusammenhänge gestellt werden. Die meisten Montmartre-Künstler lebten nicht schlecht, da sie etwa Plakate für die Cabarets oder Illustrationen für Magazine verkauften.
Bunter, deftiger, wilder
Andererseits zeigt das Buch auch Fakten und Umstände auf, die der damaligen Malerei neue Impulse gaben. Die Alkohol trinkenden Frauen etwa oder die heute wohlbekannten Prostituierten auf den intimen Boudoir-Bildern von Henri Toulouse-Lautrec. Doch nicht nur die Motive änderten sich, sondern auch Techniken und künstlerische Intentionen, die zu neuen Stilen und Genres führten.
In den Montmartre-Ateliers wurden nicht nur nackte Frauen, Arbeiter und Bettler gemalt statt herausgeputzter Bürgersleute. Vor allem wurde anders gemalt: bunter, deftiger, wilder. Als Vorboten und erste Zeugnisse neuer Künstlergruppen wie den «Nabis» und den «Fauves» oder Kunstrichtungen wie des Expressionismus. Am bekanntesten war das Atelier Bateau-Lavoir, wo Juan Gris, Amedeo Modigliani, Pablo Picasso oder Kees van Dongen wirkten.
Ihre umfassende Kunstgeschichte des Montmartre dokumentieren die Herausgeber mit Bildern und Illustrationen. Zur Abrundung gibt es Künstlerbiografien und einen historischen Quartierplan mit Hinweisen zu Ateliers, Galerien, Cabarets. Allein diese «Beigabe» animiert zu einer Exkursion durch das Montmartre-Quartier, in dem sich bis heute verträumte Plätzchen und Bistros finden lassen.
Esprit Montmartre
Die Bohème in Paris um 1900
Hg. Ingrid Pfeiffer, Max Hollein
320 Seiten
(Hirmer 2014).