Stellen Sie sich vor: Sie sind Künstler, Ihre erste grosse Retrospektive steht bevor – und dann bleiben die Museen geschlossen. Geschehen ist dies dem Luzerner Illustrator Christoph Fischer. Dessen Ausstellung «Der Welt abgeschaut» hätte Ende März im Cartoonmuseum Basel eröffnet werden sollen.
Einen kleinen Trost bieten die Video-Führungen von Kuratorin Anette Gehrig, die das Cartoonmuseum auf seiner Homepage aufgeschaltet hat. Und ein grosser Trost ist das Buch «Während ich schlief», das nun begleitend zur Schau erschienen ist.
Reportage-Reise ins Innere des Künstlers
Darin finden sich Skizzen und Notizen, die Christoph Fischer zwischen 2008 und 2017 jeweils nach dem Aufwachen von seinen Träumen zu Papier brachte. Vor allem aber beinhaltet das Buch Bleistiftzeichnungen, die der Illustrator extra für die Ausstellung in Basel angefertigt hat: elaborierte Verdichtungen einzelner Traumszenen.
Dieses Auge für Flüchtiges und Übersehenes zeichnet Fischers Karriere und Werk aus. Seit 2002 arbeitet der 44-Jährige als selbständiger Illustrator, er zeichnete etwa für die NZZ oder «Reportagen». Für sein Buch «Teufelskreisel Kreuzstutz» von 2008 dokumentierte er von seinem Luzerner Atelier aus den viel befahrenen Kreisel und seine Umgebung in Skizzen, Zeichnungen und Acrylbildern. 2011 erschien die gezeichnete Reportage «Chicago Westside». Mit detaillierten Stadtlandschaften und einfühlsamen Porträts berichtet Fischer aus einem der ärmsten Stadtviertel der USA.
Mit dem Buch «Während ich schlief» lädt der Illustrator nun gewissermassen auf Reportage-Reise in sein Inneres ein. Wer diese Sammlung aus Zeichnungen und Notizen einmal in die Hand genommen hat, wird sie nicht mehr so schnell weglegen. In illustrierten Tagebucheinträgen gibt Fischer mit selbstverständlicher Sachlichkeit surreale Traumgeschehnisse wieder. Sehr vergnüglich sind diese Berichte bisweilen: Kipplastwagen hüpfen durch die Gegend, Gutsbesitzer fertigen aus Prestigegründen Schnabelverlängerungen für ihre Schwäne, und Fischers Traum-Ich wird an simplen Aufgaben wie dem Lichterlöschen gehindert.
Das Unfassbare wird zur grossen Freiheit
Fesselnd sind die doppelseitigen Bleistiftzeichnungen zentraler Traumszenen. Fischer hat sie in seinem gewohnten realistischen Stil gezeichnet, hat ihnen deutliche Kontraste verliehen. Die Bilder entwickeln so eine starke Dynamik – und pendeln dabei immer irgendwo zwischen Albtraum und amüsanter Skurrilität. Da wandelt Fischers Partnerin über Böden, aus denen Baby-Köpfe spriessen; da fällt ein Löwe Fischer auf einem Steg an; da wölben sich riesige Architekturen und wechseln feste Dinge einfach so ihre Aggregatszustände. Diese Träume mögen die eines Fremden sein, dennoch erscheinen sie erstaunlich vertraut. Denn alle kennen das aus eigenen Träumen: Handlungen spielen sich gleichzeitig ab, und Bühnenbilder verschieben sich fortlaufend. Diese kleinen Filme verfolgen einen manchmal noch den ganzen Tag und länger.
Fischer kommentiert seine Traumzeichnungen nicht; verzichtet darauf, sie zu analysieren. Das ist gut so. Denn damit lässt er seine Leser einfach eintauchen in diese Welt des Grotesken und Absurden. Und auf einmal fühlt sich all das Unfassbare an wie eine grosse Freiheit.
Video-Führungen zu «Der Welt abgeschaut»
www.cartoonmuseum.ch
Buch
Christoph Fischer
Während ich schlief
192 Seiten
(Christoph Merian Verlag 2020)