Die Zeichnung «Strandbad dihei» (Bild rechts) erschliesst sich erst auf den zweiten Blick. Varlins Werk zeigt eine Familie, die ihre Ferien am Meer daheim verbringt mit einer Lampe, die kurzerhand als Sonne erstrahlt: «So reist der ‹Füdlibürger›, der auch in der Fremde immer nur das Eigene zu goutieren vermag …», schreibt der Kunstkritiker und Hochschul-Dozent Ulrich Binder dazu. Er verweist in seinem neuen Band «Varlin als Zeichner» auf das vielfältige «Strichsortiment» dieser Darstellung: «Vom feinen Tapetenlineament über die rumorenden Wellen und Wolken bis hin zum Stakkato des Liegestuhls und den knallroten Shorts des Hausherrn.»
Willy Guggenheim alias Varlin in Geldnöten
Hinter dem Pseudonym Varlin versteckt sich der Zürcher Willy Guggenheim (1900–1977). Er kam in jungen Jahren nach Paris, wo er die Académie Saint Julien besuchte. Guggenheim litt unter ständiger Geldnot und versuchte, sich als Karikaturist durchzuschlagen. Auf Ratschlag eines Freundes nahm er damals den Künstlernamen Varlin an, der sich angeblich besser vermarkten liess. Eugène Varlin war ein französischer Anarchist des 19. Jahrhunderts und ist heute vergessen.
Zurück in der Schweiz steckte Varlin weiterhin in Geldnöten. Der stets Unangepasste gehört zu den Künstlern, die Herausragendes leisteten, aber Mühe bekundeten, sich in der Kunstszene zu behaupten. Denn Varlin entzog sich Modeströmungen und blieb eher dem Figurativen verbunden. Das Zürcher Kunsthaus widmete ihm erst eine Ausstellung, als er 60 Jahre alt war. Allerdings konnte er bald darauf die Schweiz an der Biennale in Venedig vertreten. Im Alter zog Varlin mit seiner aus dem Bergell stammenden Frau Franca ins Bündner Südtal, wo er bis zu seinem Tod blieb.
Kunstkritiker Ulrich Binder hat mit «Varlin als Zeichner» einen lesenswerten Band herausgegeben. Binder beschäftigt sich neben dem Künstler und seinen Werken mit der Zeichnung als Erzähltechnik. Entsprechend ist das Buch in Kapitel eingeteilt wie «Bleistift», «Pinsel» oder eben «Buntstift» mit der Karikatur «Strandbad dihei». Binder erläutert, dass einer Farbstiftzeichnung etwas Kindliches anhaftet: «Im Gegensatz zum Bleistift gleitet die Spitze nicht schön, ist fast ein wenig klebrig im Abrieb.» Dies verursache das Wachs, «das dem Pigment beigemischt ist, in das die fertige Mine getaucht wird». Erst dieser «Widerstand gegen den Abrieb» erlaube es dem Künstler, mit den unterschiedlichen Schattierungen zu arbeiten, die zu einer Farbzeichnung gehören.
Eigenwillige Zeichnungen mit Kugelschreiber
Ernsthafte Künstler arbeiten eher mit Bleistift, Kohle oder Ölfarbe. Der eigenwillige Varlin kannte indes keine Hemmungen, mit allem zu zeichnen, was ihm gerade unter die Finger kam, zum Beispiel mit dem Kugelschreiber. Das Porträt «Patrizia Guggenheim als Säugling» von 1966 zeigt ein sattes Bébé, das mit der Welt und vor allem mit sich selbst zufrieden ist: «Nur mit dem Händchen fuchtelt das Baby in der Luft, nuckelt heftig mit dem Schnuller …» Autor Binder beschreibt die Arbeitsweise Varlins anschaulich: «Er nimmt die Anregungen der Kleinen auf und lässt die Spitze des Schreibers in rasendem Tempo reisend über das Papier rollen.»
Entwicklungsgeschichte von Varlins «Werkzeug»
Binder rekapituliert als Einleitung zu Varlins Arbeitsweise mit dem Kugelschreiber die Entwicklungsgeschichte des «Kugi», die komplizierter ist, als man denkt. 1888 liess der US-Erfinder John J. Loud einen Stift mit Kugelspitze patentieren, um Leder zu beschriften. Der Idee war kein kommerzieller Erfolg beschieden. Nach weiteren Anläufen anderer Tüftler schaffte der Ungar Laszlo Biro 1944 den Durchbruch, er konnte 320 000 Stifte an die britische Luftwaffe liefern: «Der neuartige Schreiber sollte gegenüber Luftdruckschwankungen weniger anfällig sein als herkömmliche Füllfederhalter.» Es ist kaum vorstellbar, dass sich der Pazifist Varlin für den militärischen Hintergrund seines Werkzeugs interessierte. Der unternehmerische Erfolg des Kugelschreibers kam schliesslich in der Nachkriegszeit, als der französische Baron Bich 1950 den Markt mit billigen Einwegkugelschreibern schwemmte – «BIC Cristal» hiess das Gerät. Aber das führt nun doch sehr weit weg von Varlin.
Drei Fragen an den Buchautor und Kunstdozenten Ulrich Binder
«Varlin ist ein Erzähler, kein Propagandist»
kulturtipp: Wie erklären Sie sich, dass Varlin gesellschafts-politisch fortschrittlich war, sich künstlerisch aber der Avantgarde eher verschloss?
Ulrich Binder: Ich bin nicht ganz sicher, ob er das tat. Zumindest hat er die zeitgenössischen Kunstbewegungen wahrgenom-men und reflektiert. In den 1920er-Jahren spürt man eine Nähe zu Chaïme Soutine, und er wurde beim renommierten Kunsthändler Leopold Zborowski in Paris angenommen. Im malerischen Spätwerk erkennt man den Einfluss von Francis Bacon. Varlin hat sich für Menschen und das Menschliche zu sehr interessiert, als dass er dies im Sinne einer Abstraktion aus seiner Kunst hätte verbannen mögen. Er ist ein Erzähler, kein Propagandist und eben dieses Interesse für das Narrative lässt sich in den Zeichnungen nachverfolgen.
Wählte Varlin seine Instrumente wie Bleistifte, Buntstifte oder Kugelschreiber gezielt aus, oder nahm er eher das, was er gerade zur Hand hatte?
Es macht den Anschein, als hätte er eben alle verfügbaren Stifte verwendet. Gleichzeitig fällt auf, dass er die New Yorker Tagebücher 1969 fast ausschliesslich mit Filzstift vollzeichnet, einem damals brandneuen Zeichenmittel. Oder auch eine Reise durch Südfrankreich in den späten 1950er-Jahren «bestreitet» er ausschliesslich mit Kugelschreiber, ebenfalls ein neues Mittel, das noch keinerlei künstlerische Nobilitierung erfuhr. Ich schliesse daraus, dass er Entscheidungen traf, die mit einem Interesse am Neuen und Unbelegten verbunden waren.
Was war Ihrer Ansicht nach der Grund, dass Varlin ein Spätzünder war und sich erst mit 50 voll entfaltete?
Gewiss kann Varlin erst spät Erfolge feiern, und er leidet zweifellos unter der fehlenden Anerkennung. Im malerischen Œuvre hingegen kann ich die «Spätzündung» nicht erkennen. Was mir auffiel, wenn ich mir überhaupt ein solches Urteil anmassen darf, dass es im ganzen Werk erhebliche Qualitätsschwankungen gibt, die aber nicht mit dem Alter korrelieren.