Tilly Keisers US-Landschaften scheinen der Septembersonne suspekt zu sein. Wohl deshalb zeichnen ihre Strahlen dicke gelbe Striche auf den glatten Betonboden und lassen sie langsam Richtung Keisers Gemälde wandern – als wollten sie die grob gemalten, verhangenen Himmel etwas aufhellen.
Die Bilder der 2001 verstorbenen Basler Künstlerin hängen im vierten Stock eines historischen Lagerhauses im basellandschaftlichen Pratteln. Hier hat sich vor ein paar Jahren der Verein ARK Basel einquartiert, das «Archiv Regionaler Künstler*innen-Nachlässe Basel».
Bereits 19 Nachlässe im Archiv
ARK-Co-Geschäftsführerin Ricarda Gerosa steht zwischen den Stellwänden mit Tilly Keisers Arbeiten und sagt: «Lange kannte fast niemand diese Künstlerin.» Draussen scheppert ein Containerzug Richtung Basel. Alle paar Minuten wird es so tönen. Doch Ricarda Gerosa lässt sich auf ihrer Führung nicht ablenken.
Die Kunstwissenschafterin und Kuratorin gründete ARK Basel 2019 zusammen mit der Kulturmanagerin und Theologin Nadja Müller. Seither hat der Verein bereits 19 Nachlässe von Künstlerinnen und Künstlern aufgenommen. Gerosa tritt an einen langgezogenen Tisch, auf dem Ordner und Schwarz-Weiss-Fotos ausgebreitet sind. Auf einem ist Tilly Keiser zusammen mit dem bekannten Basler Maler Max Kämpf zu sehen. Gerosa erzählt von der langen Freundschaft der beiden, von Keisers Leben zwischen Künstlerkarriere und Mutterdasein. «Auf solche Geschichten stossen wir immer wieder.»
Erschwingliche Leinwände für mehr Produktivität
ARK Basel widmet Tilly Keiser Ende Oktober in Basel eine Übersichtsausstellung. Aber was wäre aus ihrem Œuvre geworden, hätte der Verein ihren Nachlass nicht aufgearbeitet? Wären ihre Gemälde irgendwann einfach in einer Mulde gelandet? Mehr denn je beschäftigen sich Berufsverbände, Kunstwissenschafter und Förderstiftungen mit der Frage, wie man mit Nachlässen von Kunstschaffenden umgehen soll.
ARK Basel und weitere Nachlassinstitutionen haben sich 2019 zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen, zu der auch das Schweizerische Institut für Kunstwissenschaften (SIK-ISEA) gehört. Dort hat Matthias Oberli die Schweizerische Beratungsstelle für Nachlässe von Kunstschaffenden mit aufgebaut. Er weiss, weshalb das Thema Künstlernachlässe heutzutage drängend ist: «Erstens gibt es in der Schweiz mehr produktive Künstlerinnen und Künstler als früher.
Zweitens verleiten erschwingliche Leinwände und Papier dazu, mehr zu produzieren.» Früher hätten Künstler wie Ferdinand Hodler für ein neues Gemälde auch mal einen früheren Entwurf übermalt, so der Kunsthistoriker.
Hoffen auf einen Van-Gogh-Effekt
Seit 2016 beraten Oberli und drei Kolleginnen kostenlos Kunstschaffende oder deren Erben im Umgang mit Nachlässen. Wie lagert man Kunstwerke, und wie dokumentiert man eine Sammlung? Wann macht es Sinn, einen Verein zu gründen? Und welche Institutionen könnten an einem Œuvre interessiert sein? Anfragen erhielten sie wöchentlich, so Oberli.
Und bisweilen seien die Beratungen auch emotional. Manchmal gebe es Konflikte zwischen Künstlern und Angehörigen, was das Aussortieren zu Lebzeiten angeht. Oft sei den Menschen zudem nicht bewusst, dass die Archive und Museen der öffentlichen Hand meist volle Lager haben und kaum je einen ganzen Nachlass abnehmen. So rät das SIK auch im Ratgeber «Vom Umgang mit Künstlernachlässen» vor allem eines: reduzieren. Das stösst bisweilen auf Widerstand.
Nicht selten hoffen Angehörige insgeheim, eine Künstlerin oder ein Künstler werde vielleicht posthum doch noch zum Star. Also wollen sie sich von nichts trennen. «Das ist der sogenannte Van-GoghEffekt», sagt Matthias Oberli. Aber zum verantwortungsvollen Umgang mit einem Nachlass gehöre es, dass man etwa unvollständige oder qualitativ abfallende Werke wegwerfe. «Man kann nicht alles in die Zukunft transportieren.» Ricarda Gerosa steht derweil im hinteren Teil des grossen ARK-Archivs in Pratteln vor einem schweren Regal.
Hier lagern rund 100 von ursprünglich fast 1000 Arbeiten der Künstlerin Agat Schaltenbrand. Deren Nachlass war der erste, den der Verein aufgearbeitet hat. Gerosa erzählt vom Aufteilen in Kern-, Nachlass- und Restbestand und von den Triage-Kriterien, die der Verein als Blaupause für künftige Projekte verschriftlicht hat. «Das ist eine grosse Verantwortung. Ist die Künstlerin nicht mehr da, entscheiden wir, was bleiben wird und was nicht», so die Co-Geschäftsführerin des Vereins.
Dann geht es weiter durch die Regalreihen. Einmal zieht Ricarda Gerosa ein psychedelisches Holzbild von Erich Münch hervor, ein anderes Mal Max Löws Blumenbilder und Gemälde von Basler Hinterhöfen. Lassen es die Finanzen zu, wird es vielleicht auch zu diesen Künstlern einmal eine Ausstellung geben, allenfalls sogar eine Publikation, wie sie ARK Basel für Alfredo Pauletto herausgab. Ihnen sei es wichtig, so Gerosa, dass die Kunstwerke nicht einfach im Lager verstauben. «Diese Bilder sollen gezeigt werden – dieses kulturelle Erbe soll lebendig bleiben.»
Entsorgen bedeutet nicht immer das Ende
Etwas später im Eingangsbereich der grossen Lagerhalle: Unter einem Zettel mit der Aufschrift «Mulde» stehen vier oder fünf kleinere Gemälde mit der Vorderseite zur Wand. Manchmal holen sich Künstlerinnen und Künstler solche ausgemusterten Leinwände und übermalen sie mit eigenen neuen Werken. Entsorgen bedeutet nicht immer das Ende.
Ausstellung
Tilly Keiser – Trotzig Träumend
Fr, 20.10.–So, 29.10.
Projektraum M54 Basel
www.ark-basel.ch
Nachlassinstitutionen
Schweizerische Beratungsstelle für
Nachlässe von Kunstschaffenden
www.sik-isea.ch -> Dienstleistungen
Interessengemeinschaft
Künstler*innen-Nachlass-Initiative
www.ig-kni.ch