Ein tagträumendes Mädchen? Leicht nach hinten gelehnt, auf ein pastellgrünes Plumeau, die Hände über dem Kopf verschränkt, ein Bein auf die Sitzfläche ihres Stuhls gestellt, das andere steht angewinkelt am Boden. Die Knie leicht gespreizt. Blütenhaft aufgeschlagen der rote Glockenrock, der weisse Unterrock mit der Spitzenbordüre am Saum. Wie Fruchtstengel entsteigen die geöffneten Beine dieser Mitte. Ihr Zentrum ist ein leuchtend weisser Slip, der über der Vulva in Falten liegt. Der so pointierte wie gerade noch verdeckte Genitalbereich des Mädchens bildet beinahe das Zentrum des Bildes. (Die leichte Verschiebung reizt den Blick.)
Thérèse wird gezeigt in einem selbstbewussten und zugleich selbstvergessenen Moment der Intimität. Die Wangenpartie ist gerötet wie erhitzt, die Lippen sind ein wenig aufgeworfen. Sie scheint tief durchzuatmen, als geniesse sie etwas. Gibt sie sich der Sonne hin, die ihr auf den Körper fällt? Söckchen, sommerlich. Eine kleine Siesta im Zimmer?
Balthus malte Thérèse über die Jahre mehrmals
Ganz so harmlos, das sieht der erste Blick, ist es nicht. In den Jahren1936 bis 1939 malte Balthus, Jahrgang 1908, etwa ein Dutzend Mal Thérèse Blanchard, ein Kind aus der Pariser Nachbarschaft. «Thérèse rêvant» entstand 1938; das Mädchen war 13 Jahre alt.
Ein dunkles Interieur. Die Zimmeransicht ist gegliedert in drei Elemente. Links des Mädchens, vom Bildrand angeschnitten, eine Kommode mit einer Büchse, einer Tonvase und einem Glasflakon. Die Büchse ist zweifarbig, wie halbiert. Ihr Rot nimmt das Rot des Rocks auf, ihr Weiss die Bluse. In ihren Farben gibt sie die thematische Palette vor. Weiss und Rot: sexuelle Unberührtheit und körperliche Lust. Ein Stück weissen Stoffs, das eher an ein zerwühltes Leintuch erinnert als an eine Tischdecke, scheint von der Kommode herunterzurutschen und gehorcht nur knapp den Gesetzen der Schwerkraft. Vielleicht wird es von der Lehne des Stuhls noch gehalten.
Es ist eine Unruhe in den unbelebten Dingen, die mit der anwesenden Abwesenheit des Mädchens korrespondiert. Die Deckplatte der Kommode antwortet in grünlichem Braun dem Grün des Plumeaus, das wie das zerwühlte Tuch dem Raum eher den Charakter eines Schlafkabinetts denn eines Wohnzimmers gibt. Rechts unter dem Mädchen öffnet eine dicke Katze eine dritte Szene. Mit lang gestrecktem Körper und erhobenem Schwanz trinkt sie Milch aus einem Tellerchen am Boden. Die Katze ist falbfarben und moduliert die Hautfarbe der schlanken Mädchenbeine und -arme ins Dunkle. Das Weiss von Teller und Milch nimmt den weissen Slip auf, den Unterrock, die Bluse. Über dem schleckenden Katzenkopf steht ein Mädchenfuss in einem roten Pantoffel auf der Sitzfläche. Fellhaft schmückt ihn ein roter Pelzbesatz.
Vielleicht wird jetzt erst klar, dass das Mädchen nicht auf einem Stuhl sitzt oder lehnt, sondern auf einer Bank, einer Art Chaiselongue, die vermutlich nur wegen des Holzstuhls daneben im schnellen Hinschauen zunächst ebenfalls als Stuhl identifiziert wurde. Ein Zurücklehnen gegen ein dickes Plumeau wäre auf einem Stuhl aber gar nicht möglich.
Das Mädchen schläft nicht. Seine Haltung ist beides: Hingabe (an was?) und Anspannung. Ihr Gesicht zeigt Lust und Stolz und einen Anhauch von Schmerz.
Die Katze erscheint als Balthus’ Alter Ego
Der androgyne Körper ist lichtüberflutet. Die anfängliche Vorstellung, das schöne Kind sitze einem Fenster gegenüber, durch das die Sonne in den Raum fällt, wird fragwürdig. Denn dieses Sonnenlicht müsste dann auch hinter das Mädchen auf die dunkle, von Längsstreifen durchzogene Tapete fallen. Ein deutlicher Schatten läuft ihren linken, angestellten Oberschenkel hinunter, also zum Hüftbereich hinauf. Die intimen Zonen, die er streift, wirken nun heller. Dieser Schatten ist um so auffälliger, als es keine andere starke, schattenhafte Entsprechung gibt. Fast scheint es, als werfe ein nahe stehender Betrachter einen Schatten auf das Bein. Oder als sei der Schatten eine Geste, als berühre er zärtlich die Haut.
Gespreizte Beine, das Weiss eines Slips. Eine darunter Milch schleckende Katze: Das Sujet wäre eine pornografische Pointe, auch wenn man nicht wüsste, dass «la chatte» im Französischen ein Argot-Ausdruck für die Vulva ist, sich Balthus als «König der Katzen» bezeichnete und auf seinen Bildern ab und an eine Katze als sein Alter Ego erscheint. Mit dieser motivisch skandalösen Überblendung (das Milchlecken der Katze wird zum Cunnilingus) provozierte der Maler, und das wollte er explizit. Aber das Bild unterläuft diese Absicht, auch wenn es sie erfüllt.
Es herrscht ein flirrendes Zwielicht des Hin-und-Her in diesem Gemälde. Die Dinge weisen aufeinander und lenken damit voneinander ab. Das Zimmer ist hell und dunkel zugleich. Der Stuhl ist eine Liege. Die Tischdecke ein Leintuch, das füllige Kissen gehört in ein Schlafzimmer. Das Mädchen ist knabenhaft. Ein Schatten an der Innenseite seines linken Arms lässt Achselhaar assoziieren, ohne es zu sein. Wie auch der Flaum auf der Oberlippe nur der Hauch eines Vorscheins ist. Wie die Katze hat das Mädchen die Augen geschlossen. Beide geniessen parallel.
Entspannung oder Erwartung?
Balthus hält die Passage der Pubertät fest in einem ewigen Moment. Im Traum von Thérèse, der ein Traum des Malers ist, wird der kostbare, abgründige Übergang von der sinnlichen Kindheit in die erotische Körperlichkeit einer Frau antizipiert. Der Stolz, die Souveränität, das Erregende des Kindes liegt in seiner sexuellen Unberührtheit, die von der Lust, ohne zu wissen, schon weiss. (Dass Kinder geschlechtliche Wesen sind, ist nicht erst seit Freud bekannt.) Entspannt sich Thérèse, oder erwartet sie, wie der Maler es will, in der Konzentration eine körperliche Erfüllung?
Die Katze leckt Milch aus dem weissen Tellerchen.
Ist ihre Zunge auch ein Pinsel?
Angelika Overath
Die vielfach ausgezeichnete deutsche Autorin (*1957) arbeitet als Reporterin, Essayistin, Literaturkritikerin und Dozentin. Angelika Overath hat Romane und Erzählungen veröffentlicht sowie rätoromanische Gedichte, inspiriert von ihrer Wahlheimat im Engadin. Kürzlich ist ihr neuer Roman «Ein Winter in Istanbul» im Luchterhand Verlag erschienen. (bc)
Irritation und Provokation
Der polnisch-deutsch-französische Maler Balthus (1908–2001) zählt zu den bedeutendsten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Er hat ein vielfältiges Werk hinterlassen. Besonders mit seiner erotisch aufgeladenen Darstellung (prä)pubertärer Mädchen sorgte er damals wie heute für kontroverse Diskussionen. Forderungen nach einem Bilderverbot wurden auch in jüngster Zeit laut. «Der Öffentlichkeit ist nicht gedient, wenn man Kunstwerke wegsperrt, sondern wenn man sie zeigt und eine Debatte ermöglicht», hält Beyeler-Direktor Sam Keller im Interview mit der «NZZ am Sonntag» entgegen.
Die Fondation Beyeler bietet jeden Sonntag im Anschluss an die öffentliche Führung (12.00–13.00) eine Diskussion zum Künstler, zu Irritation und Faszination seines Werks. Am Mittwoch, 7.11., um 19.00 findet ein Gespräch zum
Thema «Balthus und die Frage der Kunstfreiheit» statt. (bc)
Balthus
Bis Di, 1.1.
Fondation Beyeler Riehen BS