Rund 200 Jahre liegen zwischen der Entstehungszeit der beiden Bilder, und doch hat sich nicht so viel verändert: Das Val Lumnezia zeigt sich in diesem Blick Richtung Ilanz von seiner lieblichen Seite. Auffallend ist allerdings der Wandel der Kulturlandschaft. Auch wenn die Natur in diesem abgelegenen Bündner Tal intakt geblieben ist, der Mensch hat seine Spuren hinterlassen: Häuser und Wald haben sich vervielfacht, einige Strassen durchschneiden die Landschaft.
In den Darstellungen des Zürcher Naturforschers, Bauingenieurs, Seidenfabrikanten und Malers Hans Conrad Escher von der Linth (1767–1823) zeigt sich die Verknüpfung von Kunst und wissenschaftlicher Topografie, wie es in der damaligen von Rokoko und Romantik geprägten Zeit ungewohnt war. «Bei ihm verschmolzen Landschaftsmalerei und exakte topografische Schilderungen zu einer neuen Kunstgattung», heisst es im Kunstwanderführer von Ruth Michel Richter und Konrad Richter.
Sicht auf Calanda
Aus Eschers Notizen ist ersichtlich, dass seine Panoramazeichnung von 1812 auf dem Steilhang hinter dem Dorf Vrin entstand. Minutiös hat er alle Berge angeschrieben. Und: Einen Teil des Churer Hausbergs Calanda sieht man bei guter Sicht von hier aus tatsächlich. Ein ebenso schöner Blick bietet sich am Anfang der Wanderung, die im Kunstwanderbuch vorgestellt wird.
Rundgang durch Vrin
Die Tour beginnt nach einer kurvigen Postautofahrt am gefühlten Ende der Welt: Vrin mit seinen 250 Einwohnern befindet sich in der hintersten Ecke des Val Lumnezia auf 1448 Meter über Meer. Ein Rundgang durch das mit dem Wakkerpreis und dem europäischen Dorferneuerungspreis ausgezeichnete Bergdorf lohnt sich. Die Neu- und Anbauten des renommierten, einheimischen Architekten Gion A. Caminada fügen sich wunderbar zu den traditionellen Holzstrickbauten und in die bergige Landschaft ein – von Wohngebäuden und Ställen über die Metzgerei bis zur Totenstube unterhalb der Barockkirche. Und sogar die hölzerne Telefonzelle ist in Vrin ein Hingucker.
Nachdem man sich in der Bäckerei Caminada mit Proviant ausgerüstet hat, lässt sich vom Startpunkt ein Blick auf die Weite des Lugnezertals werfen, die den Panorama-Maler Escher inspiriert hatte. Eine schmale Strasse führt an schroffen Bergwänden vorbei zum Fluss Glenner hinunter und wieder hinauf ins Dörfchen Surin, an dessen Eingang eine Tafel auf die archäologische Fundstelle Crestaulta aus der Bronzezeit hinweist.
Fels und Hügel
Nach Surin bleibt die Landschaft zwar wildromantisch – ein Wechsel zwischen rauen Felswänden und sanften Hügeln –, aber die Flurstrassen sind leider mehrheitlich geteert. In Silgin lockt die St. Sebastiankapelle aus dem 16. Jahrhundert mit Wandmalereien aus dem 18. Jahrhundert zur Besichtigung. Ein zutraulicher Hund streicht den Besuchern beim Betreten um die Beine.
Nun beginnt der schönste und wildeste Teil der Wanderung: Das Waldstück, Uaul Zuord, ist beim Durchqueren im April noch schneebedeckt, teilweise liegt Geröll der schieferigen Felswände auf dem Weg. Es riecht nach Moos und feuchtem Waldboden – Berg-Einsamkeit pur.
Usteria zum Schluss
Im Schnee sind nur die Spuren von Wildtieren zu sehen. Und tatsächlich: Ein Knacken im Gehölz, und plötzlich stiebt eine Herde Gämsen durch den Wald. Durch den Schnee stapfend und über Bachläufe springend erreichen die Wanderer wieder offenes Gelände und schliesslich die Wiesen von Surcasti. Im Dorf lädt die gemütliche Holzstube der Usteria Casa da Luzi im 400-jährigen Walserhaus zum Einkehren und lockt mit Lugnezer Spezialitäten (Mo/Di: Ruhetag). Dann gehts das letzte Tobel hinunter und wieder hinauf nach Uors, wo das Postauto wartet.
Fazit: Das Kunstwanderbuch wiegt zwar schwer im Rucksack, liefert aber spannenden Hintergrund – und die Bilder zur Originallandschaft. Bei dieser Wanderung lohnt sich zuweilen ein Umweg oder eine Abkürzung, um den teilweise asphaltierten Strassen auszuweichen.
Inspirationsorte in Graubünden
Die vielfältigen Bündner Landschaften mit den Augen von Malern entdecken: Dieses Ziel verfolgten die Autorin Ruth Michel Richter und der Fotograf Konrad Richter bereits in ihrem Kunstwanderbuch zum Berner Oberland. Nun lässt sich auch in Graubünden «durchs Original wandern». Das Ehepaar stellt 14 leichte bis mittelschwere Wanderungen vor und führt zu 22 Standorten von mehr oder weniger bekannten Gemälden, Skizzen oder Tourismusplakaten aus rund 200 Jahren Kunstschaffen. So lassen sich die Inspirationsorte der drei Giacomettis, von Ernst Ludwig Kirchner, Alois Carigiet, Otto Dix, Ferdinand Hodler oder Giovanni Segantini vor Ort entdecken und die Kunstlandschaft mit der realen Landschaft vergleichen. Ergänzt wird der Band mit Künstler-Porträts, Karten sowie Tipps zu Sehenswürdigkeiten und Restaurants. Die Wanderbeschreibungen animieren zum sofortigen Ausprobieren, sind aber auch für gedankliche Sofa-Reisen geeignet, zumal die Autorin zahlreiche kunst- und kulturhistorische Hintergrundinfos liefert.
Buch
Ruth Michel Richter/Konrad Richter
«Wandern wie gemalt. Graubünden – Auf den Spuren bekannter Gemälde»
432 Seiten mit zahlreichen Abbildungen
(Rotpunktverlag 2014, 2. aktualisierte Auflage: 2015).