So nah sind Leben und Tod: Kleine Grabstätten stehen für den Tod eines Menschen, kleine Verkaufsstände mit Früchten und Gemüse symbolisieren das Leben. Roman Signer hat sie in den ukrainischen und den rumänischen Karpaten fotografiert – mit einer analogen Kleinbildkamera. Je 24 Verkaufsstände mit Lebensmitteln und Erinnerungsstätten. Die Serie ist im Besitz des Aargauer Kunsthauses und wird nun erstmals präsentiert.
Roman Signer ist einer der wichtigsten Schweizer Künstler mit internationaler Anerkennung. Der 73-jährige Bildhauer, wie er sich am liebsten nennt, stammt aus dem Kanton Appenzell. Er redet heute noch das lokale Idiom, lebt allerdings in St. Gallen. Um sich für seine Kunst inspirieren zu lassen, hat Signer die ganze Welt bereist. So war er auch regelmässig in Polen unterwegs, wo er seine Frau Aleksandra kennenlernte.
Die Strassenbilder, die das Kunsthaus Aarau zeigt, schuf Signer 2005. Er hatte seine Fotosujets zuvor bei einer Reise an den Strassenrändern in den ukrainischen und den rumänischen Karpaten entdeckt und kehrte für die Aufnahmen mit dem Zürcher Grafiker Peter Zimmermann zurück.
Während ihrer Reise in Rumänien und in der Ukraine erwies sich besonders das Fotografieren der Verkaufsstände als trickreich. «Wir fuhren mit dem Auto durch die östlichen Karpaten. Jedes Mal wenn wir ein Sujet entdeckten, stürzte ich blitzschnell aus dem Wagen, um das Bild zu knipsen, bevor jemand auftauchte», sagt Signer bei einem Besuch im Aargauer Kunsthaus, «und ich musste danach wie ein Dieb abhauen.»
Gurken, Obst und Pilze
Warum konnte Signer nicht einfach die Einheimischen um Erlaubnis bitten, in aller Ruhe zu fotografieren? «Die hätten nicht verstanden, warum ich fotografieren sollte. Sie wollten mir nur ihre Ware möglichst teuer verkaufen», sagt Signer. Meist war er schnell genug mit dem Fotografieren, um abfahren zu können, bevor ein Verkäufer auftauchte. Aber nicht immer, wie sich Signer erinnert. «Eine Gurkenverkäuferin lag geradezu auf der Lauer und schwatzte mir ihre Gurken auf. Ich musste alle kaufen und konnte nichts damit anfangen.» Neben Gemüse aller Art bieten diese osteuropäischen Strassenhändler Obst, Beeren, Konfitüre und Pilze an. Viele Verkäufer sind Roma und auf diese Einnahmequelle existenziell angewiesen.
Künstler Signer nahm in Kauf, dass die Fotos nur auf den ersten Blick perfekt erscheinen: Auf einzelnen Aufnahmen sieht man etwa ein am Bildrand angeschnittenes Bein eines Verkäufers. Auch das Licht fällt immer wieder aus unterschiedlichem Winkel ein. Aber gestellt ist keine einzige Fotografie.
Wesentlich einfacher war es, die russisch-orthodoxen Gedenkstätten für Unfallopfer zu fotografieren. «In dieser Gegend fahren viele betrunken herum; regelmässig kommt es zu tödlichen Unfällen.» Die Angehörigen gedenken der Toten mit Blumen und einem Kreuz. Signer ist aufgefallen, dass diese Form des Trauerns auch hierzulande zusehends verbreitet ist. «Das war aber schon früher in den 20er- und 30er-Jahren so.» Und ist nach dem Krieg zeitweilig verschwunden.
Immer im Feuer
Signer und sein Kollege Zimmermann konnten in Rumänien und in der Ukraine ohne Schikanen fotografieren. «Zur Zeit des Kommunismus wäre das unmöglich gewesen», sagt Signer, der Osteuropa seit Jahrzehnten bereist. Die Ukraine möchte er bald wieder besuchen, denn das Land verändere sich gegenwärtig schnell. «Vielerorts sieht man fürchterliche Architektur entstehen mit den zugehörigen kommerziellen Werbetafeln.» Er redet sich in ein Feuer. Und man spürt, dass bei ihm die Kunst niemals wertfrei ist, sondern weltanschaulich geprägt: Nicht im plakativ politischen Sinn, sondern von Einsichten bestimmt, wie etwa, dass Tod und Leben viel näher beieinander sind, als man gemeinhin annimmt.
Super-8-Filme
Ein Metallkubus ist an einem Baum befestigt, auf den Seiten befinden sich fünf Öffnungen. In diesem Behälter explodiert eine Ladung Schiesspulver und formt einen Moment lang ein Feuer- und Rauchkreuz (Bild). Das ist eine «Installation», sagt Roman Signer. Von einer Performance will er nicht sprechen. Dazu brauche es Publikum, «aber ich bin bei dieser Arbeit allein».
Das Aargauer Kunsthaus zeigt diese Produkion mit 35 anderen Filmen von Roman Signer. Dabei handelt es sich um eine Auswahl aus 200 Super-8-Produktionen, die er zwischen 1975 und 1989 drehte. «Danach überholte mich das Video; diese Technik wollte ich nicht.» Signer drehte die Filme in der Umgebung seines Wohnortes St. Gallen, im appenzellischen Weissbad, an der Sitter sowie im Rheintal, alles Örtlichkeiten, die er für seine Arbeit immer wieder aufsucht.
Das gesamte dreistündige Werk erschien in einer Edition von zehn Exemplaren. Diese sind auf der ganzen Welt verteilt, etwa im New Yorker Museum of Modern Art, im Pariser Centre Pompidou und im Aargauer Kunsthaus sowie
im Privatbesitz.