«Die Idee ist sehr einfach: Ein Haus in zwei Teile zerschneiden. Der Aufwand aber ist immens. Wochenlang zersägte Gordon Matta-Clark (1943–1978) für sein Werk ‹Splitting› eigenhändig ein Einfamilienhaus. Das Fundament der rechten Seite verkleinerte er, sodass sie leicht kippte und ein Spalt entstand. Ein wunderschöner Dokumentarfilm hält den Kraftakt fest. Das US-amerikanische Haus wurde drei Monate später abgerissen.
Seit beinahe 20 Jahren kehre ich immer wieder zu diesem Werk, ‹Splitting›, zurück. Es war kein Zufall, dass ich 1999 in einem Übersichtskatalog zu Matta-Clarks Werk blätterte. Schon damals, als junger Student, wollte ich auf humorvolle Weise in Architektur eingreifen. Und da stiess ich auf einen Künstler, der so an seine Idee glaubt, dass er aus eigener Kraft ein Haus zersägt. Diese Energie war damals sehr wichtig für mich. Was tue ich hier eigentlich? Will ich das wirklich ein Leben lang machen? Meine Eltern rieten mir vom beschwerlichen Künstlerdasein ab. ‹Splitting› hat mich angetrieben. Es führt mir vor Augen, dass es Werke gibt, die den Widrigkeiten trotzen. Weil sie genug wichtig sind, um tagtäglich die Energie dafür aufzubringen. ‹Splitting› lässt mich durchhalten.
Gordon Matta-Clark hat viel Wichtiges geschaffen, bevor er mit 35 Jahren an Krebs starb. In ‹Splitting› entdecke ich immer wieder neue Ebenen. Ich glaube, das haben alle grossen Kunstwerke gemein: Sie lassen eine Fülle an Interpretationen zu. Und ihre Deutung verändert sich mit der Zeit. Als Student war mir auch der Humor wichtig. Erst kürzlich habe ich erkannt, dass sehr viele Emotionen in ‹Splitting› liegen.
Bevor Gordon Matta-Clark Hand anlegt, steht das Haus für Heimat, für Geborgenheit und Schutz. Durch den Eingriff erfährt das Haus eine Personifikation. Der Schnitt fügt ihm eine Wunde zu, es klappt auseinander und trägt eine Narbe. Seine schützende Funktion ist zerstört, es bekommt einen poetischen Charakter. So empfinde ich das. Ich glaube, bei aller Brachialität des Akts ist es eine sehr sensible Arbeit.
«Wir befestigten 100 000 Blätter am Baum»
Ich würde mir nicht anmassen, mich mit Gordon Matta-Clark zu vergleichen. Er ist eine Grösse in der Kunstgeschichte und hat eine ganze Künstlergeneration geprägt. Um aber die Frage nach Parallelen dennoch zu beantworten: Wir beide gehen von einem bestehenden Element aus und verändern es, sodass eine neue Bedeutung entsteht. Bei meiner Arbeit ‹Antiherbst› ist dies ein Baum. Eine Esche im Rheindeich, die im Herbst 2012 ihre Blätter verlor. Mit meinem Team sammelte ich die Blätter ein, lackierte sie grün und befestigte sie mit Kabelbindern an den Ästen. Über acht Wochen sammelten wir 100 000 Blätter ein. Bis der Baum komplett grün gefärbt in der winterlichen Landschaft stand. Ich wählte mit Absicht einen künstlichen Grünton – der Mensch kann die Natur nicht ganz nachahmen. Die Skulptur bestand nur wenige Tage, dann mussten wir die Blätter abnehmen. Wie auch bei Matta-Clark blieb eine Dokumentation davon. Im Kunsthaus Pasquart sind Fotografien des immergrünen Baums zu sehen.
Bei anderen meiner Werke sehe ich eine deutlichere Nähe zu ‹Splitting›. Mit einem Studienkollegen kaufte ich in meiner Heimat Bayern eine Holzhütte. Darin bauten wir einen Kamin ein. Stück für Stück zerlegten wir das Haus mit einer Kettensäge und verheizten das Holz in jenem Kamin. Das kompakte Haus bekam also Löcher und frass sich selbst auf.
Beim Öffnen seiner Haut entstanden neue Durchblicke auf die Landschaft, Licht fiel ein. Gordon Matta-Clark hat dem Licht in seinen ‹Schnitten› eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. In einer New Yorker Lagerhalle schnitt er Öffnungen in die Decken, Böden und Aussenwände, Sonnenlicht drang ein. ‹Day’s End›, Tagesende heisst diese Arbeit. Unser Werk nannten wir ‹3 Ster mit Ausblick›. Nach drei Ster, also drei Kubikmetern Holz, hatte sich das Haus niedergebrannt und gab eine neue Sicht auf die Landschaft frei. Meine Arbeiten sollen mir selbst entsprechen. Schwingt Tragik oder Humor mit, hängt das mit meiner aktuellen Lebenssituation zusammen. Das Thema Vergänglichkeit treibt mich um. Das Nichtgenügen und in letzter Instanz Scheitern.
«Ich will Kunst aus dem Leben schöpfen»
Bis heute stelle ich mir immer wieder die Fragen: Was mache ich hier überhaupt und wozu? Mit einem gewissen Erfolg oder auch Misserfolg kann die Umsetzung von Ideen zum Selbstläufer werden. Ich will mir erhalten, dass es um die Sache an sich geht, die Kunst. Aus Leidenschaft dafür habe ich überhaupt damit angefangen.
Am Ende seines Lebens hat Gordon Matta-Clark Bilder von Bäumen und Pflanzen gezeichnet. Nachdem er so gewaltige, materialaufwendige Eingriffe in Architektur vorgenommen hatte, widmete er sich Pflanzen. Auch ich möchte immer wieder etwas Neues schaffen. Ich will die Freiheit behalten, einen offenen Blick auf die Dinge zu richten und Kunst aus dem Leben zu schöpfen. Kaum ein Werk verkörpert das so stark wie ‹Splitting›: Kunst des Lebens und der Freiheit willen.»
Zeit erlebbar machen
Was bedeutet Zeit? Die Antworten der 34 Künstler in der Ausstellung im Kunsthaus Pasquart fallen kritisch, spielerisch und ästhetisch aus. Sie reflektieren Zeit im Alltag, in der Geschichte, der Technologie und Imagination. Ihre Antworten machen Zeit erlebbar – in Installationen, Fotografien, Videos, Performances und Bildern. Neben Michael Sailstorfers «Antiherbst» sind unter anderem Werke von Elmgreen & Dragset, Dieter Roth sowie Dora Budor zu sehen.
Michael Sailstorfer
Michael Sailstorfer ist in Bayern aufgewachsen. Von 1999 bis 2005 hat er an der Akademie der Bildenden Künste in München studiert. Der 39-Jährige gilt als einer der wichtigsten Vertreter einer jungen Generation deutscher Konzept- und Installationskünstler. Sein international beachtetes Werk setzt alltägliche Objekte und Räume in einen neuen Kontext, etwa mittels Licht, Ton oder Geruch. Heute lebt Sailstorfer in Berlin.
Zeitspuren – The Power of Now
So, 9.9.–So, 18.11.
Kunsthaus Pasquart Biel BE
www.pasquart.ch