Kunst - Die Lebendigkeit des Vergänglichen
Das Zürcher Kunsthaus konfrontiert den Besucher in der neuen Ausstellung «Deftig Barock» mit dem Gegensatz zwischen der Moderne und der Kunst vor 400 Jahren – und mit überraschenden Gemeinsamkeiten.
Inhalt
Kulturtipp 11/2012
Rolf Hürzeler
Überfluss und Dekadenz: Der holländische Maler Jan Steen (1626–1679) illustriert mit seinem Gemälde «Die verkehrte Welt» eine Gesellschaft, die der Völlerei huldigt (Bild ganz rechts). Als Warnung vor der Sünde ist auf der Schiefertafel unten rechts im Bild der erste Teil eines holländischen Sprichworts zu lesen «in weelde sie toe ...». Oder auf Deutsch: «Im Wohlleben seht euch vor und fürchtet die Rute.»...
Überfluss und Dekadenz: Der holländische Maler Jan Steen (1626–1679) illustriert mit seinem Gemälde «Die verkehrte Welt» eine Gesellschaft, die der Völlerei huldigt (Bild ganz rechts). Als Warnung vor der Sünde ist auf der Schiefertafel unten rechts im Bild der erste Teil eines holländischen Sprichworts zu lesen «in weelde sie toe ...». Oder auf Deutsch: «Im Wohlleben seht euch vor und fürchtet die Rute.» Degen und Krücke hängen bedrohlich von der Decke. Der Betrachter ahnt, dass sich hinter dieser fidelen Gesellschaft Abgründe öffnen.
Überfluss und Dekadenz: Das Frauenporträt der 58-jährigen US-amerikanischen Künstlerin Cindy Sherman zeigt eine Dame der besseren Gesellschaft (siehe Bild oben). Man spürt, dass diese Lady vermögend ist, vielleicht sogar einflussreich. Aber ihr Glück ist schal; sie kann es nicht geniessen, denn sie leidet an der Vergänglichkeit ihrer Schön-heit. «Diese wohlhabende Frau kämpft verzweifelt gegen die Zeit», schreibt die amerikanisch-deutsche Kunstkritikern Ana Finel Honigman. Oder mit den Worten der «Deftig-Barock»-Kuratorin Bice Curiger: «Es geht um ‹bedrohte Vitalität›.»
Auf den ersten Blick haben die Werke von Jan Steen und Cindy Sherman nichts gemeinsam. Die hintergründige Botschaft der beiden ist jedoch verblüffend ähnlich: Weltlicher Genuss ist trügerisch, wer sich nicht hütet, ist dem Unglück nahe. Die calvinistische Moral war im Barock zeitweise noch mehr verbreitet als heute – und sie inspirierte die beiden Künstler. Auch wenn Steen und Sherman kaum unterschiedlicher sein könnten: Der Holländer war Wirt, Bierbrauer und Maler, die Amerikanerin ist eine der tonangebenden Fotokünstlerinnen der Moderne.
Neue Perspektiven
Das Zürcher Kunsthaus konfrontiert in der neuen Schau Kunst aus dem Barock mit aktuellen Werken. Die Spannweite der Künstler ist weit: Sie reicht in der Moderne von Maurizio Cattelan über Paul McCarthy bis zu Oscar Tuazon. Aus dem Barock sind Werke holländischer, italienischer und spanischer Meister vertreten – von Pieter Aertsen über Bartolomeo Passarotti bis zu Francisco de Zurbarán. Der optische Gegensatz dieser Künstler zwingt den Besucher, die meist bekannten Werke aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Und man stösst auf überraschende Parallelen, auch wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse von damals und heute kaum vergleichbar waren.
Europa erlebte im 17. Jahrhundert eine unruhige Zeit. Als Jan Steen zur Welt kam, fochten Frankreich, die deutschen Staatswesen, Schweden und Habsburg unter dem Deckmantel religiöser Gegensätze im Dreissigjährigen Krieg um die Vorherrschaft in Europa. Die Niederlande hatten sich eine Generation vor Steens Geburt von der spanischen Besatzung befreit. In jener Zeit der religiösen Auseinandersetzungen nahm die Kunst für sich in Anspruch, moralische Werte zu vertreten.
Im Fall von Steen allerdings auf heitere Art: Er muss ein lebensfreudiger, leutseliger Zeitgenosse gewesen sein, wie dieses Werk belegt. Seine «verkehrte Welt» warnt ziemlich lustvoll vor der Zügellosigkeit. Die strahlenden Gesichter verraten, dass Dekadenz gar nicht so schlimm sein kann, wie das der gestrenge Calvinismus die Holländer gelehrt hatte.