kunst Die Gefälligkeit des Verfremdeten
Jedermann kennt die Werke des tschechischen Künstlers Alphonse Mucha – er selbst ist längst vergessen. Doch sein gestalterischer Einfluss ist heute noch spürbar, wie das Zürcher Museum <br />
Bellerive in einer neuen Ausstellung belegt.
Inhalt
Kulturtipp 05/2013
Rolf Hürzeler
Ein ungewöhnliches Bild der französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt: Auf diesem Plakat (siehe erstes Bild rechts) ist sie nicht als die berühmte Kameliendame zu sehen. Hier tritt sie vielmehr in einer männlichen Rolle auf. Denn Bernhardt spielte im Winter 1896 in der Pariser Uraufführung des romantischen Stücks «Lorenzaccio» des französischen Dramatikers Alfred de Musset die Titelrolle. Das Werbeplakat für die Inszenierung am Th&e...
Ein ungewöhnliches Bild der französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt: Auf diesem Plakat (siehe erstes Bild rechts) ist sie nicht als die berühmte Kameliendame zu sehen. Hier tritt sie vielmehr in einer männlichen Rolle auf. Denn Bernhardt spielte im Winter 1896 in der Pariser Uraufführung des romantischen Stücks «Lorenzaccio» des französischen Dramatikers Alfred de Musset die Titelrolle. Das Werbeplakat für die Inszenierung am Théâtre de la Renaissance galt in jener Zeit als revolutionär zukunftsweisend. Es stammte aus der Werkstatt eines Tschechen, des Künstlers Alphonse Maria Mucha (1860–1939).
Jugendstilkünstler
Das Zürcher Museum Bellerive widmet dem Jugendstilkünstler Mucha eine eigene Ausstellung unter dem Titel «Mucha Manga Mistery». Das Haus erinnert nicht nur an das umfangreiche grafische Schaffen des Tschechen in Paris. Es dokumentiert auch, dass sein Einfluss in der gestalterischen Welt bis heute spürbar ist, etwa in der japanischen Version von Comic-Heften, den Manga. Mehr noch war Mucha in der Kunst der 68er-Bewegung präsent. Die US-amerikanische Flower-Power-Bewegung liess sich von den ornamentalen Darstellungen inspirieren. Und heute sind Muchas Werke nicht weit von der Fantasy-Grafik entfernt, die auch die Herzen der jüngeren Generation entzücken.
Muchas Lebenslauf führte ihn aus der südmährischen Provinz nach Wien, wo er als Theaterdekorateur arbeitete, weiter über München und schliesslich im Sog der Weltausstellung 1887 nach Paris, wo er an der renommierten Académie Julian studierte.
Objekt der Begierde
Mucha schuf sieben Jahre später das Bühnenplakat für Sarah Bernhardt. Die Diva war so begeistert, dass sie den Künstler unter Vertrag nahm. Er gestaltete die kommenden sechs Jahre nicht mehr nur Plakate für sie, sondern oftmals auch ihre Kostüme und Bühnenbilder.
Gestalter Mucha traf das ästhetische Empfinden der vorletzten Jahrhundertwende präzis, wie das Museum Bellerive in einem Einführungstext schreibt: «Verträumt blickende Frauen, die als Projektionsfläche sämtliche Facetten zwischen realer Person und Allegorie bedienen konnten, bilden das zentrale Motiv.» Mit Ranken und Blüten geschmückt erscheinen sie als Göttinnen: «Als Objekte der Begierde verkörpern sie förmlich die 1900 aufkommende Kaufkraft und verführen zu grossstädtischem Vergnügen.»
Diese Grafik verkörperte für spätere Generationen indes alles andere als materiellen Hedonismus. In den 60ern und 70ern erlebte die dekorative Kunstbewegung besonders in Kalifornien eine Renaissance. Nun dienten diese Grafiken als Gegenwelt zum bürgerlichen Wohlstand, der in der Nachkriegszeit als korrupt empfunden wurde. Künstler wie der Friedensaktivist Wes Wilson entwickelten Muchas Grafik weiter, blieben aber erstaunlich nahe beim Original.
Für Werbung und Musik
Auch die Künstler Alton Kelley und Stanley Mouse prägten die oppositionelle grafische Bewegung jener Zeit mit, unter anderem mit ihrer Werbung für das Zigarettenpapier Zig-Zag, das zum Rauchen von Haschisch-Zigaretten angeblich besonders geeignet gewesen sein soll. Und sie arbeiteten für Musiker wie Grateful Dead, Jimi Hendrix und die Steve Miller Band. Heute schliesst sich der Mucha-Kreis: Nachdem die orientalische Kunst den europäische Jugendstil mitprägte, sind nun die Bezüge zwischen Mucha und den modernen japanische Manga-Künstlern erkennbar.
Wegweisende Kunst
Bleibt die Frage, weshalb eine grafische Schule 120 Jahre später beim Publikum noch immer auf breiten Zuspruch stösst? Muchas Kunst ist leicht verständlich, sie ist gefällig und nicht provokativ. Muchas Arbeiten waren Werbung mit künstlerischem Anspruch und hoben sich damit von der damaligen Alltagsreklame ab. Spätere Generationen erkannten, dass sich diese Form der Werbung für ihre eigene Botschaft vereinnahmen liess, sei es eine «bessere Welt mit Drogen» oder die kommerzialisierten Fantasy-Märchen.
Mucha selbst profitierte ein Leben lang von seiner wegweisenden Kunst. Nach dem Ersten Weltkrieg ging er zwar in Frankreich vergessen. Aber er konnte mit seiner Familie in der Tschechoslowakei Fuss fassen und erledigte lukrative Auftragsarbeiten wie die Gestaltung von Briefmarken oder Banknoten. Doch 1939 marschierten die Deutschen in Prag ein. Mucha kam in ein Lager und starb nach kurzer Zeit an einer Lungenentzündung. Die Nationalsozialisten hatten offenkundig kein Verständnis für den Charme seiner künstlerischen Arbeiten.