Eine Kirchenglocke ohne Klöppel – sinnlos wie eine Uhr ohne Zeiger. Dennoch schwingt diese Glocke hin und her, als möchte sie verkünden, was sie nicht verkünden kann, nämlich die genaue Zeit. «For Whom?» ist der Titel des Werks. Die Antwort drängt sich auf – für niemanden. Zeitlosigkeit ist zentral im
Werk des flämischen Künstlers Kris Martin, den das Aargauer Kunsthaus jetzt in einer Ausstellung vorstellt. Der 40-jährige Martin ist in der Schweiz zwar weitgehend unbekannt, war aber schon in renommierten Häusern wie dem New Yorker Moma und der Londoner Tate Modern zu sehen. Er lebt als Familienvater in der flämischen Stadt Gent.
Eine andere Interpretation der lautlosen Glocke verweist auf das Gedächtnis Verstorbener. Zumindest der silbrige Schädel «Still Alive» ist in dieser Richtung einzuordnen, ein Motiv, das schon in der Antike und zuletzt bei Damien Hirst auftauchte. Martin liess für seine Idee eine Computertomografie des eigenen Kopfs erstellen. Er setzte das Ergebnis in eine Bronzeplastik um und versilberte sie.
Der Belgier setzt jedoch nicht nur auf das Jenseitige, wie die Installation «T.Y.F.F.S.H.» zeigt. Dieser in sich zusammengefallene Heissluftballon macht den Besuchern die Grösse eines Ausstellungsraums sinnlich erlebbar. Und er füllt einen Saal in seinem intensiven Rot – auch ohne erhitzte Luft – mit einer warmen Atmosphäre der Geborgenheit.
Ein wiederkehrendes Thema in Martins Werk ist Fjodor Dostojewskijs Roman «Der Idiot» (siehe Seite 31). Der Künstler kopierte den gesamten Text, ersetzte jedoch den Namen der Hauptfigur Fürst Myschkin mit «Ich». In diesem Zusammenhang ist das Werk «Idiot II»zu sehen, eine Goldmünze, die Martin bei einem Mailänder Goldschmied in Auftrag gab. Auf einer Seite ist die Währung «Idiot» geprägt, auf der andern Seite die «1», was einen Idioten ergibt, eine Währung, die wahrscheinlich verbreiteter ist als der Dollar.
Werke wie dieses lassen Martins Kunst mit einem hintergründigen Witz erscheinen, der andern Installationen eine gewisse symbolträchtige Schwere nimmt.
Interview mit Kris Martin
Der belgische Künstler Kris Martin ist eine Entdeckung. Das Aargauer Kunsthaus zeigt eine Retrospektive seiner ungewöhnlichen Kunst, die erklärungsbedürftig ist. Und die er dennoch nicht erklärt haben will.
kulturtipp: Ist Ihnen die Zeit eine Last?
Kris Martin: Die Zeit ist zentral in meinem Werk, weil man sie nicht packen kann. Mit meiner Kunst versuche ich, sie zu überlisten, sie einen Moment lang zu stoppen. Aber das ist natürlich eine Illusion.
Und damit wollen Sie dem Tod ein Schnippchen schlagen?
Ja, die Vergänglichkeit beschäftigt mich sehr. Sie ist überall erkennbar. Selbst in banalen Details, wenn ich meinen Kindern eine Banane schäle und diese sich gleich bräunlich verfärbt. Ich bin der Vergänglichkeit obsessiv verfallen.
Verpassen Sie damit nicht das Leben?
Nein, das Vergängliche gehört nun mal dazu. Aber das ist nicht traurig, sondern macht mich glücklich. Denn ich halte nichts vom Verdrängen. Ich will dem Ende in die Augen blicken, ohne mich dabei schlecht zu fühlen.
Ihre Kunst ist oftmals erklärungsbedürftig.
Nein, das ist sie nicht. Gerhard Richter sagt, er möge keine Kunst, die er verstehe. Und recht hat er. Nur Kunstkritiker wollen die Kunst verstehen, weil sie selber keine machen können. Aber ich bin eine Art Schamane, der Dinge tut, die andere nicht verstehen können, ich schaffe Illusionen. Das ist die Faszination des Schamanen, und er verliert sie, wenn die Leute seine Methoden verstehen.
Damit gehen Sie das Risiko ein, missverstanden zu werden.
Das macht doch nichts, jeder Künstler wird missverstanden. Zum Beispiel meine «Idioten»-Serie nach dem Roman von Dostojewskij. Da gehören Missverständnisse doch dazu, sonst würde ich mich ja nicht mit dieser Romanfigur identifizieren. Ich bin wirklich kein intellektueller Künstler.
Sondern ein spiritueller, wie Ihre Kreuz-Skulptur zeigt.
Ja, aber ich will sie nicht interpretieren. Mir ist einfach wichtig, dass Jesus den Menschen nicht als Held, sondern menschlich erscheint, wie er hier wegblickt. Denn er ist ein Anti-Held.
Warum wollen Sie Spiritualität vermitteln?
Das gehört zur Menschlichkeit. Jedermann ist spirituell, die einen lassen es für sich nur mehr zu als andere. Schliesslich kennen wir alle moralische Normen, an die wir uns halten.
Sie arbeiten oft für Kirchen.
Ja, das Christentum gehört zu unserem kulturellen und intellektuellen Erbe. Das können wir nicht einfach ablegen; das ist in unseren Genen. Natürlich kann man sich dem Buddhismus zuwenden, aber ich ziehe es vor, mich mit einer angestammten Religion zu beschäftigen.
Haben Sie eine politische Botschaft?
Nein, meine Kunst ist unpolitisch. Aber seltsamerweise verstehen viele Leute meine Arbeiten politisch. Tatsächlich lassen sich einzelne Werke politisch interpretieren, weil ich die Leute bewusst auf eine falsche Fährte locke.
Zum Beispiel mit einem alten Schuh mit Fussknochen aus dem Ersten Weltkrieg.
Ja, aber dieses Werk führt weit über die Politik hinaus. Hier geht es um das Leiden, das sich Menschen gegenseitig antun. Das hört ja nie auf. Dieser Fuss steckt schon fast 100 Jahre in diesem Schuh, und es hat sich nichts verändert.
Also doch eine Interpretation?
Ich mache nur Bildnisse von Dingen. Kunstkritiker mögen das konzeptuell nennen, mich interessiert das nicht. Ich gestalte Dinge aus totem Material zum Anschauen. Nicht mehr und nicht weniger.
Sie verbringen Ihre Ferien regelmässig in der Schweiz.
Ja, das stimmt. Ich bin sogar in Disentis gezeugt worden, und ich liebe die Berge. Darum kann ich sagen, dass dieses Land so wenig perfekt ist wie ich selbst. Und doch liebe ich es sehr. Auch wenn die Schweizer meines Erachtens ein bisschen zu sehr aufs Geld fixiert sind; das ist nicht so mein Ding.