Durch die Tür fällt der Blick auf einen Tisch am Ende des Raums. Er ist rund, festlich gedeckt. Man geht näher. Ein cremefarbenes Tischtuch, helle Porzellanteller mit dezenten dunklen Rändern; Wein- und Wassergläser. Zwei rosa Kerzen. In den Serviettenringen aus Porzellan stecken über den dunklen Stoffen Lavendelzweige. Dies scheint der einzige Anklang an das Thema «The Other Kabul. Remains of the Garden » der Ausstellung im Kunstmuseum Thun zu sein. Die legendäre Gartenkultur Persiens ist reduziert auf ein paar trockene Blüten. Steht man nahe am Tisch, fällt auf, dass das Porzellan, die Teller, die Serviettenringe, die Salatschälchen und eine einzelne Platte in der Mitte einen persischen Schriftzug tragen. Wer könnte ihn lesen? Und nun sieht man auch, dass an den zwei Raumwänden, die dem Tisch eine Art Rahmung geben, seltsamer Wandschmuck hängt: Abtrockentücher an weissen Emaille-Haken. Und diese Tücher sind mit derselben persischen Botschaft bestickt. Was wollen die fremden Zeichen auf den vertrauten Dingen sagen? Dieser Tisch ist nach westeuropäischen Vorstellungen gedeckt. Es sind unsere Teller, Schüsseln, Serviettenringe; aber die Dinge zeigen nicht unsere Schrift.
Zwei junge Afghanen erzählen im Flugzeug
Und spätestens jetzt fällt auf, dass es keine Stühle gibt. Und der Tisch ist mit zwei ähnlichen, aber doch verschiedenen Tüchern gedeckt. Beide sind gebrochen weiss. Eines hat einen Hohlsaum, das andere nicht. Offensichtlich kommt es nicht so darauf an, denn hier wird ein Gastmahl nur zitiert. Jeanno Gaussi wurde 1972 in Kabul geboren; sie lebt heute in Berlin. Ihre durch Schrift dominierte Installation heisst «No Language». Und ein kleiner Text hinter Glas in einem schmalen Holzrahmen erklärt, warum dieses Werk entstanden ist. Es war im Sommer 2012. Die Künstlerin reiste in einem Flugzeug von Berlin nach Kabul, einem der Nebenschauplätze der Documenta 13, auf der auch sie vertreten war. Zufällig hörte sie ein Gespräch zweier junger Afghanen. Die beiden sassen in der Reihe hinter ihr, rechts und links des Gangs. Vielleicht mussten sie deshalb etwas lauter sprechen. Sie unterhielten sich auf Dari, und die Künstlerin freute sich, ihre Muttersprache zu hören. Einer der beiden Männer erzählte von seinem Leben in Deutschland. Er habe eine Aufenthaltsgenehmigung, die er immer wieder erneuern müsse.
«Zum Geschirrspülen braucht man keine Sprache»
Auch die Afghanin Jeanno Gaussi war bis zu ihrer Volljährigkeit in Deutschland nur geduldet und musste regelmässig stundenlang in den Gängen der Ausländerbehörde warten. Der andere der beiden Männer hatte bislang in Schweden gelebt; er war auf dem Abschiebeflug zurück nach Kabul. «Wir drei teilen die gleiche Herkunft», so Gaussi, «und auf diesem Flug durch die Nacht, auf kleinstem Raum, treffen wir zusammen. Der eine ist im gleichen Prozess wie ich damals, und der andere fliegt in eine unsichere Zukunft.» Der Mann, der abgeschoben wurde, erzählte weiter, er habe sehr viel Geld für einen Schlepper bezahlt und werde nun wieder Geld für einen Schlepper zusammenbringen müssen, um Afghanistan erneut verlassen zu können. Der Afghane aus Deutschland fragte, wie er sich denn überhaupt in Schweden so habe durchschlagen können, ohne Schwedisch zu sprechen. Da antwortete der Abgeschobene: «Zum Geschirrspülen braucht man keine Sprache.» Und genau dieser Satz ist es, der in Dari auf den Tellern, in den Schüsselchen, auf den Serviettenringen, auf der Platte in der Mitte steht und in die Geschirrhandtücher eingestickt ist: «Zum Geschirrspülen braucht man keine Sprache.» Was Jeanno Gaussi auszeichnet, ist zunächst, dass sie in der Alltagssituation sofort das Potenzial eines Satzes erkannte, in dem sehr viel zusammenkommt. Wie konnte sich der Afghane in Schweden integrieren? Einfach, indem er sich nicht integrieren musste. Er war in einer Küche für den Abwasch zuständig. Er übte diese Arbeit aus, um einen minimalen Lebensunterhalt zu verdienen und um seiner Familie in Afghanistan Geld schicken zu können. Niemand wollte, dass er sprach. Er musste funktionieren. Er führte eine Schattenexistenz, wie viele, die wir, die an schönen Tischen sitzen, nicht sehen. Der Tisch der Installation ist kein Luxustisch. Das Porzellan ist von Seltmann Weiden (nicht von Meissen), die Trockentücher sind aus Leinen von Hess Natur. Das ist solide, aber nicht wirklich luxuriös. Und die gestückelte Tischbedeckung? Wir müssen nicht zu den sehr Reichen gehören, um blinde Flecken in unserer Wahrnehmung zu haben. Es gibt diese Anderen, deren Sprache in dieser Installation paradiesgartenschön über den Schmelzglanz des Porzellans läuft. Die, die in den Küchen arbeiten, in den Hotelzimmern putzen (alles Handarbeit!), die sich in den Strassen um unseren Müll kümmern. Sie stehen im Dienst einer Gesellschaft, der es sozial besser geht und zu der sie nicht gehören. Die Sprache, die sie nicht brauchen, macht das klar.
Durch wie viele Hände ging der Teller vor uns?
In Jeanno Gaussis Installation liege das Moment einer schockartigen Aufklärung. In einem Teller, normalerweise bereit, eine Speise aufzunehmen, mäandert ein Satz. Geheimnisvoll wie eine schöne Arabeske. Bis ihn die kleine Erzählung aus einem Nachtflug zwischen den Welten erklärt: «Zum Geschirrspülen braucht man keine Sprache.» Es könnte sein, dass, wer diese Installation gesehen hat, nun manches deutlicher sieht: das glattgestrichene Hotelbett, das frisch gebügelte Tischtuch, den geleerten Aschenbecher und den noch leeren, sauberen Teller – durch wie viele Hände ging er, bis er hier so schön platziert steht? Der Teller, der auf einmal spricht, auch wenn er keinen Schriftzug träg.
The Other Kabul, Remains of the Garden
Bis So, 4.12., Kunstmuseum Thun BE
www.kunstmuseumthun.ch
Angelika Overath
Geboren 1957 in Karlsruhe, lebt Angelika Overath nach Stationen in Griechenland und Deutschland seit Jahren im Unterengadin. Sie schreibt Romane und Lyrik (auch in Rätoromanisch) sowie Reportagen und Essays. Sie arbeitet als Literaturkritikerin und Dozentin. Zuletzt erschienen ist der zweisprachige Lyrikband «Schwarzhandel mit dem Himmel / Marchà nair cul azur» (Telegramme 2022). Für den kulturtipp hat Overath zuletzt das umstrittene Gemälde «Thérèse rêvant» von Balthus betrachtet.