Kunst: Blick auf die soziale Misere
Der Bildband «Berliner Realismus» wirft ein Schlaglicht auf die sozialen Missstände in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts – und auf das «Milljöh».
Inhalt
Kulturtipp 01/2019
Rolf Hürzeler
Erotik – oder eher nicht? Die rote Tänzerin legt für die Herren im Vergnügungslokal eine Table-Dance-Einlage hin. Im Hintergrund ist eine Büste von Kaiser Wilhelm II. erkennbar, umschlungen von einer Fahne. Der Maler Hans Baluschek setzt damit einen aparten Kontrast: Die Repräsentanten der feinen Gesellschaft geben sich dem billigen Vergnügen hin. Das Gemälde mit dem Titel «Tingeltangel» illustriert im Bildband «Berliner Realismu...
Erotik – oder eher nicht? Die rote Tänzerin legt für die Herren im Vergnügungslokal eine Table-Dance-Einlage hin. Im Hintergrund ist eine Büste von Kaiser Wilhelm II. erkennbar, umschlungen von einer Fahne. Der Maler Hans Baluschek setzt damit einen aparten Kontrast: Die Repräsentanten der feinen Gesellschaft geben sich dem billigen Vergnügen hin. Das Gemälde mit dem Titel «Tingeltangel» illustriert im Bildband «Berliner Realismus» die gesellschaftliche Tristesse um 1900 in Deutschlands Hauptstadt. Der Band dokumentiert die sozialkritischen Ansätze der deutschen Kunst vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933.
Not und Elend des Proletariats
Unter der Affiche «Berliner Realismus» sind in diesem Band berühmte Namen wie der Kriegskritiker Otto Dix oder die sozialistische Zeichnerin Käthe Kollwitz versammelt. Auch heute vergessene Künstler sind vertreten wie der Fotograf Heinrich Zille oder der propagandistische John Heartfield mit seiner plakativen Grafik.
Hans Baluschek (1870–1935) passt mit seinem «Milljöh»-Werk «Tingeltangel» perfekt in diese Reihe. Er ordnete seiner Kunst eine politische Aussage zu, wollte sie als gesellschaftskritisches Bekenntnis verstanden wissen. Baluschek gehörte der Berliner Secession und dem Deutschen Künstlerbund an und war Mitglied der SPD. Wie die meisten Gestalter seiner Zeit blieb er gegenüber dem Kommunismus misstrauisch.
Das Buch ist in themenbezogene Kapitel unterteilt. Neben «Sexualität und Realismus» beleuchten Kapitel wie «Kunst aus dem Rinnstein» die damalige soziale Misere zusammen mit Zilles berührenden Fotografien. Berlin erlebte im 19. Jahrhundert einen Bevölkerungszuwachs, der zu einer verbreiteten Verarmung führte: Die Einwohnerzahl nahm allein zwischen 1877 bis Ende des Jahrhunderts von einer Million auf 1,7 Millionen zu. «Im Lichte dieser historischen Fakten ist es nicht verwunderlich, dass Not und Elend des Proletariats in der Berliner Kunst ein Echo fanden», heisst es im Begleittext zu den Bildern. «Gerade durch den auffälligen Kontrast zwischen höfischem Prunk und bitterer Armut besass das Thema nirgendwo sonst eine grössere Brisanz.»
Aufgeladene Stimmung im Volk
Die Not schlug sich in einer konfrontativen politischen Stimmung nieder zwischen einer kämpferischen Linken und einer reaktionären Obrigkeit, die eine Revolution wie in der Sowjetunion befürchtete. Diese ideologischen Gegensätze führten oftmals zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, wie etwa die Märzkämpfe 1919, bei denen innerhalb von zehn Tagen mehr als 1200 Menschen in Berlin umkamen. Dahinter steckte im Vergleich zu heute eine unterschiedliche Einstellung der Menschen zur Gewalt. Dazu ist im Buch zu lesen: «Sie gehörte zur Zeit der Weimarer Republik selbstverständlicher als heute zum Alltag.»
Bildband
Berliner Realismus
Herausgeber: Tobias Hoffmann
201 Seiten, mit 158 Abbildungen
(Wienand 2018)