Mittwochnachmittag im Zürcher Kunsthaus. Ein Besucher läuft durch die Sammlung, rastlos überfliegt sein Blick die Bilder. Vor einem Gemälde bleibt er stehen, tippt auf ein kleines Gerät in der Hand, hält es ans Ohr. Aus einiger Entfernung ist ein unverständliches Murmeln zu hören. Der Mann verharrt vor dem Bild, bis das Geräusch verstummt, nimmt das Gerät vom Ohr und setzt seine Suche fort.
Der kleine Apparat, der aussieht wie ein Telefonhörer, nennt sich Audioguide und ist das Ergebnis einer 200-jährigen bildungspolitischen Entwicklung: Mit Gründung der Nationalmuseen in Europa Ende des 18. Jahrhunderts trat die Kunst ins öffentliche Leben. Waren die Werke zuvor einer gebildeten Elite vorbehalten, sollten sie nun allen Bürgern zugänglich werden – Kataloge, Faltblätter und Wandtexte ermöglichten ein Kunstverständnis ohne Vorwissen.
Erklärungen fördern das Verständnis
Die technische Weiterentwicklung führte in den 1980er-Jahren zum Audioguide. Dessen Nachfolger sind digitale Varianten mit zusätzlichen visuellen Funktionen auf Tablets oder Smartphones.
Die Kunstvermittlung für ein breites, internationales Publikum ist zentrales Anliegen der Museen. Doch viele Besucherinnen und Besucher haben wenig Bezug zu den dargestellten historischen, biblischen oder mythologischen Themen. Daher ist eine Erklärung der Werke unerlässlich etwa für das Verständnis der Szene aus der griechischen Sagenwelt, die der Barockmaler Joseph Werner d.J. auf dem Gemälde «Odysseus überlistet den als junge Frau verkleideten Achill im Palast von König Lykomedes» (1648) dargestellt hat. Denn: Man sieht nur, was man weiss. Aber sieht man auch genauso gut, während man hört?
Abwechslungsreiche Hörrundgänge
Die meisten Audioguides sind inhaltlich ähnlich aufgebaut: In ein bis drei Minuten wird ein ausgewähltes Werk beschrieben und in den historischen oder biografischen Zusammenhang eingebettet. Diese beiden Aspekte sind unterschiedlich stark gewichtet: Der Audioguide im Zürcher Kunsthaus beinhaltet beispielsweise sehr ausführliche Hörstücke mit viel Hintergrundinformation, was bei allem Interesse mitunter vom Bild ablenkt. So verliert selbst ein Rubens-Gemälde an Wirkung, wenn dazu die gesamte Geschichte des flämischen Barock zu verarbeiten ist.
Eine besonders ausgewogene Mischung aus Bildbeschreibung und Kontext ist dem Kunstmuseum Winterthur gelungen: Über ein Gemälde von Picasso etwa, auf dem ein Paar im Café abgebildet ist, hört man, welchen Gesichtsausdruck der Künstler den Figuren gab und wie er die Farben kombinierte. Gleichzeitig erläutert der Audioguide Picassos Schaffensweise: Das Thema des Gemäldes «Deux personnages» mit einem Paar im Café nahm er sich für eine bestimmte Zeit vor und arbeitete dann jeden Tag in verschiedenen Studien daran. Auch das Zentrum Paul Klee in Bern bietet mit Zitaten des Künstlers einen abwechslungsreichen Hörrundgang durch die Ausstellungen und die Anlage: Erklärungen der Maltechnik und Geschichten aus seinem bewegten Leben zwischen der Schweiz und Deutschland veranschaulichen Klees Kunst. Dabei wird der Besucher immer wieder direkt angesprochen und aufgefordert, seine Sinne zu schärfen, beispielsweise den Wind in den Birken um das Zentrum wahrzunehmen oder einen Blick in den Himmel zu werfen.
Grosse Unterschiede bezüglich Technik
Fast überall nimmt die geschichtliche Einordnung von alten Werken mehr Raum ein als die von modernen. Je abstrakter die Kunst, desto mehr liegt der Fokus auf dem spezifischen Objekt. So zum Beispiel beim Gemälde «Grey Wolf» des irisch-US-amerikanischen Malers Sean Scully von 2007: Die Anordnung der schwarz-grauen Felder, die Pinsel- und Farbtechnik und der Glanz der Bildoberfläche werden auf dem Audioguide im Kunstmuseum Bern detailliert analysiert.
Deutlicher unterscheiden sich die Audioguides hinsichtlich der technischen Umsetzung: Während das Zentrum Paul Klee in Bern und das Kunsthaus Zürich ein altmodisches und einfach zu bedienendes Gerät anbieten, gibt es im Kunstmuseum Winterthur einen eher unpraktischen iPod. Dieser ist zwar leicht zu tragen, erschliesst sich aber nur mit guten Augen (oder Lupe) und viel Fingerspitzengefühl.
Nicht immer ist modern auch besser
Das Kunstmuseum in Bern hat sich für eine moderne Variante entschieden: Auf einem iPad sind nebst Hörbeiträgen auch Videos von den jeweiligen Bildern zu sehen. Nicht immer ist modern auch besser: Der iPad hängt schwer am Hals, und die Videos auf dem Display führen schnell mal dazu, dass die Bilder an der Wand übersehen werden. Es dauert teilweise lange, bis die Beiträge hochgeladen sind, da das WLAN nicht alle Gemäuer lückenlos durchdringt.
Wer mit einem Audioguide durchs Museum läuft, lernt mit grosser Wahrscheinlichkeit viel. Doch lässt sich Kunst auf diese Weise verstehen? Kritiker meinen, die Malerei lasse sich mit Sprache nicht erfassen und könne nur aus sich selbst heraus wirken. Audiorundgänge erschwerten das selbständige Entdecken der Kunstwerke. Statt den Blick schweifen und besonders anziehende Gemälde auf sich wirken zu lassen, orientiere man sich wie der gehetzte Besucher im Zürcher Kunsthaus an der nächsten Nummer auf dem Guide. Die Werke, zu denen es keinen Hörbeitrag gibt, blieben oftmals ungesehen.
Gleichzeitig beflügeln jedoch Hintergrundwissen und Deutungsansätze das eigene Denken und können zu einer intensiveren Auseinandersetzung führen.
Die Entscheidung liegt beim Besucher
Welche Art von Kunsterlebnis erstrebenswerter ist, liegt letztlich im Auge – beziehungsweise im Ohr – des Betrachters. Der kulturtipp empfiehlt, sich beim Museumsbesuch einen Audioguide auszuleihen und diesen hin und wieder abzuschalten, um den eigenen Assoziationen und Gedanken freien Lauf zu lassen.