Ein Felsbrocken mitten in Kreuzlingen – und keiner schaut hin. An der Hauptstrasse, eingequetscht zwischen Bankfiliale und Tourismusbüro, steht der «grosse Stein». Das altertümliche Monster wirkt inmitten der modernen Bauten, als wäre es zufällig gelandet. Ist es aber nicht, wie Thomas Widmer in seinem Buch «Hundertundein Stein» über die «grossen Brocken der Schweiz» schreibt. Der Findling wurde zwar aus verkehrstechnischen Gründen etwas verschoben, aber er gehört dorthin, wo er ist.
Widmer schlüsselt die Inschriften im Stein auf: Die eine erinnert daran, dass hier im Mittelalter der lokale Galgen stand. Eine zweite gedenkt eines tapferen Gottesmanns, des Stiftsdekans Georg Tschudi, der von diesem Stein aus, seinem «Rednerstuhl», gegen die Reformation wetterte. Widmer stellt diese Inschrift zu Recht in Frage, weil der Stein alles andere als ein bequemes Rednerpodest gewesen wäre. Der unerschrockene Katholik hätte «im Kampf für den alten Glauben» damit rechnen müssen, runterzuplumpsen, was seiner Autorität hinderlich gewesen wäre. Als wäre das nicht genug der Geschichte, diente der Stein einst als Grenzmarke der längst vergessenen Vogtei «Uff den Eggen».
Widmer hat sein Buch nicht nur als Hommage an Felsen geschrieben. Er versteht seine Sammlung auch als Wanderführer, wobei sich Kreuzlingen bei all seinem grenzstädtischen Charme kaum als Wanderdestination anbietet. Viel besser eignet sich dazu der zweite Thurgauer Brocken, den er in seinem Buch vorstellt: der «Graue Stein» bei Ermatingen. Dieser belegt erstens, dass die Thurgauer beim Steinetaufen nicht eben erfinderisch waren. Und zweitens, dass sie sich hier wie vielerorts in der Schweiz bedienten, um Baumaterial zu gewinnen, wie eine Inschrift in Gedichtform sagt.
Bei 101 Steinen finden sich Wandergelegenheiten in unterschiedlichsten geschichtsträchtigen Gegenden – so zum Beispiel beim wohl schönsten Findling der Schweiz, dem Druidenstein. Er liegt beim schwyzerischen Morschach, einem Kurort, der ab 1869 mit dem Hotel Axenstein internationale Prominenz auf das Plateau über dem Urnersee lockte. Der Hotelpalast inspirierte den Schriftsteller Meinrad Inglin (1893–1971) zu seinem Roman «Grand Hotel Excelsior».
Der Appenzeller Journalist Widmer ist ein genauer Beobachter. Wer mit ihm wandert, wundert sich über all die scheinbaren Nebensächlichkeiten, die er entdeckt. Mit einer unbändigen Neugier recherchiert er die dahinter versteckten Geschichten. Mit diesem Buch hat er sich all der Mocken angenommen, an denen die meisten achtlos vorbeispazieren – wie in Kreuzlingen.
Tesserete und Vaglio TI. Artinbosco
Auf einem Waldspaziergang die Gedanken schweifen lassen: Höchst inspirierend wirkt ein Gang durch die Buchen- und Kastanienwälder im Bosco Capriasca in Tesserete und Vaglio oberhalb von Lugano. Auf den Bäumen und im Unterholz gibt es Kunstwerke zu entdecken. Objektkünstler aus der Schweiz und Europa haben sie aus organischen Materialien des Waldes gefertigt. Klimatische und saisonale Einflüsse verändern die Installationen laufend. Artinbosco ist ein Erlebnispfad der erfrischenden Art.
Weglänge: 3 Kilometer
www.artinbosco.ch
Sils im Engadin GR. Giacometti Art Walk
Die Smartphone-App «Giacometti Art Walk» ist ein digitaler Wanderführer in die Welt von Alberto, Giovanni und Augusto Giacometti. Fünf Themenwege führen von Sils im Engadin durchs Bergell und geben Einblick in Leben und Schaffen der Künstler. An Wegpunkten klingelt das Handy dank Standortbestimmung: Nun sind zum Ort passende Werke, Texte oder Kurzfilme abrufbar. Sie zeigen etwa, wo Giovanni Giacometti 1898 bei Maloja das Bild «Mäher» malte. Oder wer Nelda Negrini war, die Alberto Giacometti porträtierte. (sk)
Weglänge: 1,3 bis 7 Kilometer
www.giacomettiartwalk.com, App: Apple App Store, Google Play
Konolfingen BE. Literaturweg Friedrich Dürrenmatt
«Voller Abenteuer war die Ebene mit dem sauren Klee in den Wiesen.» So beschreibt Friedrich Dürrenmatt in «Labyrinth, Stoffe I–III» die Welt um das bernische Konolfingen, wo er bis 14 lebte. Dort zeigt der «Literaturweg Friedrich Dürrenmatt», wie sich der Schriftsteller später an seine Jugend erinnerte. Ein kleiner und ein grosser Rundweg führen an Elternhaus, Schule und Friedhof vorbei. Tafeln liefern unterwegs die passenden Zitate des Autors. Und die Smartphone-App «Wanderwege Bern» bietet Dürrenmatt-Interviews und weitere Hörschnipsel.
Kurzer Rundweg: 2,8 Kilometer, langer Rundweg: 7,2 Kilometer
www.bernumwandern.ch, App: Apple App Store, Google Play
Beromünster LU. Lyrik-Weg Carl Spitteler
Mit dem Projekt «1919 meets 2019» feiert «Literatur mobil» 100 Jahre Nobelpreis für Carl Spitteler. Im Jubiläumsjahr sind temporäre Lyrik-Wege eingerichtet worden. Dazu wurden in der Schweiz lebende Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus allen Sprachregionen angefragt, Gedichte oder Kurztexte mit Bezug zu Spitteler zu verfassen. Die Texte sind auf Tafeln gedruckt im öffentlichen Raum zugänglich. Den Auftakt macht der Weg in der Waldkathedrale in Beromünster. Beteiligt sind Klaus Merz, Zsuzsanna Gahse, Simon Chen, Alberto Nessi und viele andere.
Weglänge: 13 Kilometer, bis Ende September
www.literatur-mobil.ch; www.baumwanderungen.ch
Kultur-Wanderbücher
Kulturerbe im Wandel
Von Genfs Hinterland bis ins Val Bavona: Auf 23 Routen lassen sich über Jahrhunderte entstandene, bäuerliche Kulturlandschaften in der ganzen Schweiz erwandern.
Der zweite Teil der Reihe «Heimatschutz unterwegs» öffnet den Blick auf ein Kulturerbe im Wandel. Mit detaillierten Kartenausschnitten, Bildern und Kurztexten zu landschaftlichen oder architektonischen Entdeckungen. (bc)
Heimatschutz unterwegs: Süsse Früchte, goldenes Korn
Mit Übersichtsbroschüre, 23 Routenblättern (Schweizer Heimatschutz 2019)
Farbenprächtige Touren
Wie sehr gleicht William Turners 1843 entstandenes Bild von Bellinzona der heutigen Burgenstadt? Die Reihe «Wandern wie gemalt» lockt auf die Spuren von Gemälden. Neu erschienen ist der Führer zur Gotthardregion mit 14 Touren im Tessin und Wallis, in Graubünden und Uri. Ein farbenprächtiger Kunst-Wanderführer mit kulturhistorischem Hintergrund, inklusive nützlicher Tipps zu Kost, Logis und Museen.
Ruth Michel Richter/ Konrad Richter
Wandern wie gemalt – Gotthardregion. Auf den Spuren bekannter Gemälde, 384 S. (Rotpunkt 2019)