Der Teufel verwandelte einen jungen, unschuldigen Walliser in einen Raben. Doch sein Freund kann ihn wegen einer Träne im Auge erkennen und von seinem traurigen Schicksal erlösen. Das ist der Kern einer Walliser Sage, wie sie die fünf Frauen des «Boozu»-Teams im Dorf Agarn VS den Besuchern erzählen. Sie führen ein «Gschichtuhüs», in dem sie die alten, einheimischen Sagen ebenso aufleben lassen wie exotische Legenden etwa aus dem zentralasiatischen Turkmenistan. Die «Boozu» sind übrigens zurückgekehrte Tote, die nach alten Vorstellungen als arme Sünder über die eisigen Gletscher wandern. Und wer in einer sternenklaren Winternacht genau hinhört, vernimmt ihre fernen Schreie noch immer … «Das Wilde, Urwüchsige ist nicht fern», schreibt die Journalistin Ursula Binggeli über ihren Besuch im Dorf.
Jazzer lieben Muri
Das «Gschichtuhüs» in Agarn ist einer von 15 Kulturorten, die der neue Band «Da, wo etwas los ist» vorstellt. Journalisten des Feuilletondiensts der Schweizerischen Depeschenagentur SFD stellen darin inspirierende Orte vor. Darunter sind Institutionen, die man kennt wie der Progr in Bern. Die meisten andern dagegen sind lediglich lokal bekannt, aber deshalb für die restliche Schweiz umso interessanter. Wer hat schon ausserhalb des aargauischen Freiamts vom «Pflegidach» in Muri gehört? Hier treffen sich regelmässig Grössen der US-amerikanischen Jazzszene, wie der kulturtipp-Redaktor Frank von Niederhäusern in einem Beitrag konstatiert: «New Yorker Jazzer kennen und lieben Muri.» Der Initiant Stephan Diethelm hat unterdessen um die 300 Konzerte in der Reihe «Musig im Pflegidach» initiiert. Er habe einen speziellen Riecher und früh Bands wie Snarky Puppy oder La Brassbanda engagiert, die «heute grosse Hallen füllen».
Bibliobahn Gais
Hinter allen Kulturorten stehen Leute wie Diethelm, die Herzblut für ihre Sache vergiessen und von ihrer Mission überzeugt sind. Das zeigt auch die Reportage über die BiblioGais im gleichnamigen Appenzeller Dorf. Ein alter Bahnwagen der Appenzellerbahnen beförderte jahrelang die Bibliothek durch die Hügellandschaften, bis er nicht mehr fahrtüchtig war. Ein paar Bücherwürmer entschieden sich in der Gemeinde Gais, eine Bibliothek einzurichten – allesamt Laien, die vom Geschäft keine Ahnung hatten.
Ein überraschender Kulturort ist das Kantonsspital Aarau, das man gemeinhin mehr mit Spitzenmedizin als mit Kunst in Verbindung bringt. Doch das Krankenhaus verfügt über eine Sammlung von 2800 Werken, welche die Kunstbeauftragte Sadhyo Niederberger betreut. Sie organisiert für die 23 000 stationären Patienten jährlich drei Ausstellungen mit Gastkünstlern und hängt die permanent platzierten Werke um, weil im Gebäudekomplex laufend irgendwo umgebaut werde.
Trouvaillen garantiert
Renommierte Künstler halten in der Regel wenig von Ausstellungsorten wie Spitäler, Verwaltungsgebäude oder Beizen. Bei den Aargauern ist das anders. Da war schon die Performance-Künstlerin Dorothee Rust zu sehen, die Fotografin Katrin Freisager oder der Genfer Videokünstler Claudio Moser.
Stellt sich die Frage, ob Kunst die Heilung von Patienten beschleunigt. Wohl kaum, aber wenn sie die sterile Krankenhausatmosphäre belebt, ist viel gewonnen, da mag der eine oder andere kurze Ablenkung von den Gebresten finden. Interessierte mögen zudem nach einem Besuch im Aargauer Kunsthaus den Umweg ins Spital wagen, um Werke in einer etwas anderen Umgebung zu finden.
Vom Krankenhaus zum «Gschichtuhüs»: Gemäss dem Band «Da, wo etwas los ist» verstecken sich in der Schweizer Kulturlandschaft zahlreiche Trouvaillen. Man muss sie nur finden, dabei hilft dieses überraschende Buch.
Buch
Bruno Rauch, Judith Wyder, Sabine Arlitt u.a.
«Da, wo etwas los ist»
167 Seiten
(Limmat 2016).