Genüsslich blinzelt die Schwyzer Schriftstellerin am Ufer der Limmat in die Sonne. In der harzigen Corona-Zeit ist sie froh um einen Tapetenwechsel. Eigentlich wäre 2020 ihr neues Buch herausgekommen, und sie hätte sich bei einem Stipendienaufenthalt in New York neu inspirieren lassen. Nun war das letzte Jahr geprägt vom Umplanen, Homeschooling mit ihrem Sohn, Regeln finanzieller Unterstützung, Abwarten. «Die Pandemie hat meine Kreativität eine Zeit lang richtig gelähmt», sagt Martina Clavadetscher. Doch nun ist ihr zweiter Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» erschienen, und sie hofft, dass das Kulturleben wieder an Fahrt gewinnt. «Diese Zeit hat den Menschen gezeigt, dass Kultur kein Luxusprodukt ist, sondern ein Grundbedürfnis wie Nahrung.»
Ihr neuer Roman ist eine Hymne auf das Erzählen. Geschichten erfinden bedeutet für ihre Protagonistinnen Freiheit und Emanzipation. Und auch ihre Schöpferin sagt: «Wie langweilig wäre das Leben ohne Erfinden! Erzählen ist für mich ein grosses Austoben.» Mit viel Lust am Fabulieren und ihrer unverkennbaren Form zwischen Lyrik, Drama und Prosa hat sie denn auch ihren Roman gestaltet: eine Geschichte über belebte Maschinen in der Tradition von Schauerromanen wie «Frankenstein» und E.T.A. Hoffmanns «Der Sandmann». Oder wie Clavadetscher sagt: «Sennentuntschi reloaded». Den Kern ihrer Geschichte bildet die Mathematikerin Ada Lovelace (1815–1852), die als erste Programmiererin der Welt gilt. Über sie hat Clavadetscher bereits ein Theaterstück geschrieben, das 2019 in Leipzig uraufgeführt wurde.
Raffiniert verknüpft sie den Erzählstrang um Ada mit den Geschichten um zwei fiktive Figuren: die mysteriöse New Yorkerin Iris und die autistisch veranlagte Chinesin Ling, die in einer Fabrik Frauenpuppen mit künstlicher Intelligenz herstellt. Als Leserin kann man sich vom rhythmischen Erzählfluss mitreissen lassen – und, kaum ist die letzte Seite gelesen, wieder von vorne beginnen, da sich einige Geheimnisse erst im letzten Teil erschliessen. «Beim Lesen stösst man wie durch eine Frucht zum Kern», erklärt Clavadetscher ihr Schichtenprinzip. «Und am Schluss nimmt man die Figuren anders wahr als am Anfang.»
In ihrem Roman verschwimmen die Grenzen zwischen Mensch und Maschine, Frau und künstlicher Puppe. Aber was kann künstliche Intelligenz nicht ersetzen? «Ich wünsche mir, dass es die Kreativität ist, durch die der Mensch als Mensch erkennbar bleibt», sagt die Autorin. «Doch auch der echte Mensch verhält sich durch seine Gene, durch sein von der Gesellschaft vorgegebenes Verhalten oder durch Erziehung zuweilen programmiert.» Und genau aus solchen Strukturen brechen ihre Figuren – ob Mensch oder Maschine – aus und werden zu Unbezähmbaren.
Buch
Martina Clavadetscher
Die Erfindung des Ungehorsams
288 Seiten
(Unionsverlag 2021)
Martina Clavadetschers Kulturtipps
Buch
Samanta Schweblin: Hundert Augen (Suhrkamp 2020)
«Die argentinische Autorin hat ein grossartiges, klug komponiertes Buch über Menschen und Maschinen geschrieben. Unheimlich und mysteriös.»
Stream/DVD
Il Miracolo
«In der Arte-Mediathek finde ich oft Spannendes. In der italienischen Serie ‹Il Miracolo› wird bei einem Mafiaboss eine Blut weinende Plastikmadonna gefunden – jede der auftretenden Figuren projiziert etwas anderes in sie. Wahnsinnig gut gemacht und erzählt.»
Vinyl
Phoebe Bridgers: Punisher (Dead Oceans 2020)
«Die junge US-Singer-Songwriterin tritt gerne im Knochengerüstgewand auf. Indie-Rock mit sehr guten Texten.»