Sind 16 Franken Eintritt zu viel? Ist ein Saaltext zu klein gedruckt oder zu kompliziert geschrieben? Ist das Theaterstück zu lang? Die meisten von uns würden diese Fragen vermutlich mit Nein beantworten. Doch was ist mit Menschen, die mit einer niedrigen Rente auskommen müssen? Was mit einer Person mit Sehschwäche oder geistiger Behinderung? Der Zugang zu kulturellen Angeboten ist noch immer nicht für alle Teile der Bevölkerung eine Selbstverständlichkeit. Die Frage, wer Kultur geniessen oder sich gar aktiv am kulturellen Leben beteiligen kann, ist in den letzten Jahren zu einem der grossen Themen der Kulturinstitutionen geworden. Kulturelle Teilhabe heisst das Stichwort. Dahinter verbirgt sich die Idee, dass Kinder und Senioren, Migrantinnen und Sprachminderheiten, Menschen mit Behinderungen und solche aus Randregionen aktiv und auf ver- schiedene Arten am kulturellen Leben mitwirken können.
Kirchner-Tage und offene Generalproben
Was das konkret bedeuten kann, zeigt das Beispiel des Kirchner Museums in Davos, das wie eine Reihe anderer Institutionen das Pro-Infirmis-Label «Kultur inklusiv » trägt. Der Museumsbau von 1992 ist rollstuhlgängig, die Multimediaguides sind barrierefrei, verschiedene Texte sind seit 2020 in leichter Sprache und Grossschrift verfügbar. Zudem bietet das Museum Konversationskurse für geflüchtete Menschen an und bald wieder ein Vermittlungsangebot für Demenzkranke. Zuletzt öffnete das Haus am monatlichen Kirch- ner-Tag seine Tore gratis. In der Probephase kam dieses Angebot laut Geschäftsführer Severin Bischof gut an. Jetzt werde noch der Stiftungsrat entscheiden, ob der Kirchner-Tag ab der nächsten Ausstellung fix ins Angebot aufgenommen werde. Das Kirchner Museum wolle für möglichst viele Menschen offen sein, sagt Bischof. «Wir verstehen uns nicht als Tempel für einige wenige Eingeweihte.» Ähnliche Angebote bieten auch Theater. Die Bühnen Bern führen im nächsten Halbjahr Jan Dvoráks «Carmilla» zweimal mit Audiodeskription für Sehbehinderte auf. Hinzu kommen zwei Vorstellungen von Henrik Ibsens «Ein Volksfeind» mit Übersetzung in Deutschschweizer Gebärdensprache. Das Theater Orchester Biel Solothurn wiederum hat regelmässig offene Generalproben im Programm, die etwas kürzer sind. Für Menschen mit Sehbehinderung gibt es taktile Werkeinführungen, bei denen sich Bühnenbild und Kostüme haptisch erleben lassen. Und für Menschen mit kognitiven Behinderungen bieten die beteiligten Theater in Biel und Solothurn sogenannte Relaxed Performances an. Das heisst: kürzere Spieldauer, offene Saaltüren, ein ungezwungener Rahmen.
Anerkennungsbeiträge für Projekte und Institutionen
Dass es vermehrt solche Angebote gibt, ist auch einer Politik zu verdanken, die auf einem breiteren Kulturbegriff fusst. Kultur gilt heute als wesentlicher Bestandteil des gesellschaftlichen und politischen Lebens, als Instrument für Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt. So gründeten Bund, Kantone, Städte und Gemeinden 2011 den Nationalen Kulturdialog unter anderem mit dem Ziel, sich vermehrt mit kultureller Teilhabe zu befassen. Seit einigen Jahren vergeben sowohl der Bund als auch einzelne Kantone regelmässig Anerkennungsbeiträge für Projekte und Institutionen, die sich für die Teilhabe möglichst breiter Bevölkerungskreise einsetzen. All dem ging die Kulturbotschaft 2016 bis 2020 voraus, in welcher der Bundesrat die Förderung der Teilhabe als zentrales Ziel verankerte. Den vorbereitenden Bericht dazu hatte 2015 der Verein Kulturvermittlung Schweiz (KVS) verfasst. Seit damals sei im Bereich Teilhabe in der Schweiz einiges passiert, bestätigt Marc Griesshammer, Leiter des Stadtmuseums Aarau und Co-Präsident des KVS. «Teilhabe ist zu einem Förderkriterium von Stiftungen und Kulturförderstellen geworden», sagt Griesshammer – und verweist auf einen Leitfaden für Förderstellen, den der Nationale Kulturdialog 2021 veröffentlichte. Zudem gebe es einige Museen, die weit über einfache Massnahmen zur Inklusion hinausgingen und zum Beispiel auch ihre Deutungshoheit abgäben.
Ausstellungsmacher aus der Bevölkerung
Tatsächlich liess etwa das Kunstmuseum Thun schon Migrantinnen oder Mitglieder des Ruderclubs Ausstellungen kura- tieren. Und das Zentrum Paul Klee holte sich jüngst Kinder als Ausstellungsmacher ins Haus. Solche und ähnliche Projekte dürften Museumsbesucher in Zukunft noch mehr antreffen. Laut Marc Griesshammer hätten gerade die Budgetdiskussionen der letzten Jahre und die Coronapandemie verdeutlicht, dass sich Museen vermehrt Gedanken über ihre Relevanz machen müssten. «Je mehr Menschen aus der Bevölkerung ein Haus abholt, desto grösser ist auch die Daseinsberechtigung», sagt Marc Griesshammer. Als Leiter des Stadtmuseums Aarau stelle er sich mittlerweile auch Fragen zur Sammlung. «Wir sind der Gedächtnisspeicher der Bevölkerung. Aber wer entscheidet eigentlich, an was sich die Menschen in 200 Jahren noch erinnern sollen? Auch hier sollten wir darüber nachdenken, die Bevölkerung teilnehmen zu lassen.» Für Schweizer Kulturinstitutionen wird das Thema Teilhabe eine Herausforderung bleiben. Nicht jedes Haus kann sich die gleichen umfassenden Massnahmen leisten. Noch entscheidender sei jedoch, dass Teilhabe in einer Institution nachhaltig Priorität erhalten müsse, sagt sowohl Marc Griesshammer als auch Severin Bischof. Am Kirchner Museum Davos ist man zumindest fest entschlossen, Haus und Museumsarbeit weiter zu öffnen. Ein nächstes grösseres Projekt ist bereits in Planung: Im Herbst 2023 zeigt das Museum eine Sammlungsausstellung, die von Davoserinnen und Davosern kuratiert wird. Schliesslich gehören Kirchners Landschaften auch ihnen allen ein wenig.
Museen und Theater für alle
Gigon/Guyer. Kirchner Museum revisited
So, 27.11.–So, 1.1.
Kirchner Museum, Davos GR
Tibor Harsanyi: «L’histoire du petit tailleur»
Familienkonzert in leichter Sprache und als Relaxed Performance
Sa, 29.10., 15.00
Manufacture Tobs (Zwingli), Biel BE
«Wär gloubt scho a Geischter»
Relaxed Performance der Liebhaberbühne Biel
Sa, 19.11., 19.00 und Do, 15.12., 19.30
Stadttheater Biel BE
«Herzog Blaubarts Burg»
mit Audiodeskription
So, 11.12., 19.00, Stadttheater Biel BE
Fr, 16.12., 19.30, Stadttheater Solothurn
«Carmilla»
mit Audiodeskription
So, 18.12., 16.00
Stadttheater Bern
Masi Lugano
Regelmässige Workshops für Menschen mit Demenz, Führungen für Blinde und Sehbehinderte und Einführungsvideos in Gebärdensprache
www.masilugano.ch
«Ein Volksfeind»
mit Übersetzung in Deutschschweizer Gebärdensprache
Mi, 15.2., 19.30, Vidmar 1 Bern