«Wie habt ihrs gefunden?», fragt Robyn Muffler – und die Gespräche ringsum versiegen. Erst jetzt hebt sich das Treffen von einem gewöhnlichen Apéro unter Freunden ab. Acht junge Frauen sitzen in einer Luzerner Altbauwohnung beisammen, eine Kerze brennt, umringt von Sektgläsern und Schüsseln mit Chips. «Ich musste acht geben, dass mich die bedrückende Stimmung nicht selber runterzieht», sagt Robyn Muffler, die den Buchclub gegründet hat. Andere in der Runde stimmen ihr zu: Knut Hamsuns Roman «Hunger» war harte Kost. Über ihre Empfindungen gelangen die Frauen in ein lebendiges Gespräch. Sie gehen auf Form und Sprache ein, lachen, fragen, finden Deutungen.
«Das Gespräch weitet das eigene Blickfeld»
Gruppen wie der Luzerner Buchclub erleben einen Boom. Immer mehr Leute schliessen sich kleinen Runden an, um zusammen Kultur zu erleben – sei es in Form von Lesezirkeln oder gemeinsamen Besuchen von Theatern, Konzerten oder Museen. Denn zusammen entsteht eine vielschichtigere, tiefere Auseinandersetzung mit dem Werk.
«Wir nehmen uns gerne literarische Herausforderungen vor, weil sie Reibungen erzeugen und viel Gesprächsstoff hergeben», sagt die 25-jährige Robyn Muffler. Letzten Sommer verschickte sie ein E-Mail an Freunde und Bekannte, die gerne lesen. Seither trifft sich der Kern von zehn Frauen alle sechs Wochen, zusammen wählen sie die Bücher und die Treffpunkte in Luzern aus. «Oft bleiben Bücher bloss als flüchtiges Gefühl in Erinnerung. Das Gespräch weitet das eigene Blickfeld und hinterlässt bleibendere Eindrücke der Lektüre», sagt sie.
Robyn Muffler ist durch ihr Germanistikstudium belesen, die meisten Mitglieder bringen jedoch andere Hintergründe ein. So auch die beiden Gastgeberinnen des Buchclubabends: Alice Reinhard ist Geschäftsführerin beim Luzerner Lokalradio 3fach und Johanna Bucher angehende Innenarchitekturstudentin. «Das macht die Diskussion noch spannender. In der Literatur gibt es ohnehin kein richtig oder falsch», sagt Muffler.
«Ein Gegenpol zur Ökonomisierung»
Kulturclubs führen Menschen zusammen, die sich sonst womöglich nie begegnet wären. Das ist mindestens ebenso wichtig wie der kulturelle Rahmen. «Bei den Interpretationen fliessen persönliche Anekdoten ein. Man lernt einander schnell nahe kennen», sagt die 25-jährige Alice Reinhard.
Das Bedürfnis nach realen, direkten Begegnungen ist laut Basil Rogger, Kulturwissenschaftler an der Zürcher Hochschule der Künste, sogar Antrieb für solche Clubs. Er beobachte diese Tendenz auch in anderen Bereichen wie Sport und Gastronomie. «Gruppen, in denen man freiwillig und echt teilt, schaffen eine weitaus attraktivere Identifikation als etwa Grossunternehmen. Die selbst initiierten Runden bilden einen Gegenpol zur Globalisierung und Ökonomisierung», sagt er.
Laut Rogger handelt es sich eigentlich nicht um einen Trend, sondern vielmehr um eine Renaissance. Denn gerade Buchclubs blicken auf eine lange Geschichte zurück. In der Schweiz bildeten sich während der Aufklärung Mitte 18. Jahrhundert erste Lesegruppen. Die Vereine dienten der gemeinsamen Beschaffung, Rezeption und Verbreitung von Lektüre.
Heute ist es dank Internet einfacher denn je, Kulturclubs ins Leben zu rufen. Das Netzwerk Meetup etwa bringt Menschen jeglicher Interessen zusammen. In der Schweiz gibt es aktuell 378 kulturelle Meetup-Gruppen, Tendenz steigend. Eine davon heisst «Art Explorers Zürich» mit 1276 Mitgliedern. Jeden Monat besucht sie Ausstellungen von historischer bis zeitgenössischer Kunst, dazu erscheinen jeweils maximal 20 der Liebhaber.
Fachsimpeln über einen Akt von Frank Behrens
Das Aargauer Kunsthaus lockt acht Teilnehmer an. Sie unterhalten sich auf Englisch, denn bis auf zwei Schweizer stammen sie aus Italien, Irland, England und dem Iran. «Expats sind wohl noch mehr daran interessiert, neue Leute kennenzulernen», vermutet die irische Organisatorin Kate O’Dwyer. Gemeinsam betreten sie die Schweizer Kunstsammlung, um sich allmählich in kleine Grüppchen aufzuteilen. Manche bleiben vor Gemälden stehen und unterhalten sich über Details, die den anderen jetzt erst auffallen. Vor Frank Behrens «Akt unter Pflanzen» finden alle wieder zusammen. «Ob das eine Frau wohl genauso gemalt hätte?», fragt der 69-jährige Pietro Maggi. Einige lachen, erst jetzt bemerken die Betrachterinnen, dass die Aubergine auf die gespreizten Frauenbeine zeigt. Gut möglich, dass Maggis Sicht durch eine andere Meetup-Truppe gefärbt ist: Kurz zuvor ist er im Museum auf eine Bekannte der Gruppe «Be queer!» gestossen. Diese setzt sich mit Genderthemen auseinander.
Pietro Maggi schätzt die neuen Anregungen, die er durch die «Kunstentdecker» gewinnt: «Die Aarauer Ausstellung hätte ich ohne die Gruppe nicht besucht», sagt er. Die Gründerin Kate O’Dwyer wohl ebenso wenig: «Meine Freunde sind nicht ganz so kulturinteressiert wie ich», sagt die Übersetzerin, die auch gemeinsame Konzertbesuche organisiert. «Durch die Perspektive der anderen, teilweise selbst Künstler, eröffnen sich für mich neue Zugänge.»
Darüber hinaus entstehen beim Austausch Freundschaften und sogar Liebesbeziehungen: Der 47-jährige Bankberater Jonathan Massey hat seine Partnerin in einem Meetup kennengelernt. «Die Gespräche am Ende sind manchmal das beste an den Treffen», sagt O’Dwyer.
Nach der Lektüre wird gemeinsam gegessen
Beim Spaziergang durch die Aarauer Altstadt gehen die Kunstliebhaber zu persönlichen Unterhaltungen über. Die Diskussion der Luzerner Literatinnen hingegen bleibt lange beim Werk: Alle haben das Buch «Hunger» in Griffweite, manche haben Passagen daraus vorgelesen. Der Roman, der das Hungern eines verarmten Autors so eindringlich beschreibt, hat sie gefesselt. Nach über zweieinhalb Stunden rutscht Robyn Muffler heraus: «Ich habe einen Riesenhunger!» Sie lacht selbst herzhaft über die passende Bemerkung. Johanna Bucher dreht Electromusik auf. Und bald sitzen die Literaturfreundinnen gemeinsam vor dampfenden Tellern.
Kulturclubs beitreten:
www.meetup.com
www.spontacts.com (Bern)
www.dievoyeure.ch (nur bis 25 J.)
www.dieweltlesen.ch