Videospiele erzählen keine Geschichten in traditioneller Form wie ein Buch oder ein Film, sondern fordern den Spieler auf, diese selbst aktiv zu erleben. Sie sind Plattformen für eigene Erfahrungen in und ausserhalb unserer Realität, genau wie Museen. Man muss Foucaults Texte über Heterotopien nicht gelesen haben, um zu verstehen, wie wichtig solche Räume sind. Heterotopien sind im Gegensatz zu Utopien wirkliche und begehbare Orte mit eigenen Regeln, abseits unseres Alltags, die unsere Gesellschaft repräsentieren und spiegeln – Orte der Kultur.
Videospiele sind inzwischen ein allgegenwärtiges und globales Phänomen. Pro Helvetia schloss sie 2010 in die Kulturförderung mit ein. Und 2018 veröffentlichte auch der Bundesrat einen Bericht, in dem Videospiele als digitale Kulturgüter definiert werden. Sie stellen neue Formen des kreativen und des technologischen Schaffens dar. Nicht umsonst nannte Espen Aarseth, Videospielforscher der ersten Stunde, Games bereits vor 20 Jahren «das wahrscheinlich gehaltreichste kulturelle Genre, das wir bis jetzt gesehen haben.»
Virtuelles Gruseln und vergessenes Kulturgut
Ein schönes Beispiel ist das Game «Mundaun»: Mundaun ist ein 300-Seelen-Dorf in Graubünden. Das gleichnamige Videospiel von Michel Ziegler, das gerade die internationale Indie-Game-Szene erobert, ist ein düsteres, in Rätoromanisch gesprochenes Horrormärchen mit handskizzierten Texturen und liebevoll gestalteten Puzzles. Der Protagonist Curdin besucht nach dem Tod seines Grossvaters das abgelegene Bergdorf seiner Kindheit und findet sich inmitten von folkloristischen Mythen, Sagen und Legenden wieder. Durch virtuelles Gruseln wird hier nicht nur in Vergessenheit geratenes Kulturgut erlebbar gemacht, Ziegler erschuf in den sieben Jahren Entwicklungszeit auch seinen ganz persönlichen Stil einer archaischen Spielwelt in Bleistiftschraffur.
Auch das Entwicklerteam DNA Studios aus dem freiburgischen Bulle ermöglicht es, Kunst und Kultur interaktiv zu erfahren. In ihrer Trilogie «Hors-Cadre» kann der Besucher mit der «Walking-Simulation» virtuell Gemälde von Schweizer Malern erkunden. Nach einer virtuellen Reise zu Arnold Böcklins «Toteninsel» und durch Félix Vallottons Gravuren «Intimités» schaut man im letzten Teil Ferdinand Hodlers «Holzfäller» bei der Arbeit zu. Dabei kann man sich mithilfe einer Virtual-Reality-Brille frei im Raum bewegen und die Sujets von allen Seiten betrachten, die bis anhin auf einem zweidimensionalen Bild gefangen waren – ein dreidimensionaler Ausflug in den Zeitgeist und die Welt dieser Künstler.
Live-Konzert in der Spielwelt
Natürlich, nicht immer ist der Zusammenhang von Videospielen und Kultur so offensichtlich wie bei diesen Beispielen. Aber selbst der kritische Beobachter, der seinen Kindern beim Onlinespiel «Fortnite» zuschaut oder es selbst spielt, erkennt, wie popkulturelle Ereignisse zitiert, gespiegelt oder sogar erzeugt werden. Im April 2020 gab der US-amerikanische Rapper Travis Scott ein Live-Konzert innerhalb des Battle-Royale-Universums von «Fortnite», das von zwölf Millionen Zuschauern verfolgt wurde. Dabei wurden traditionelle Formen von Bühne und Publikum aufgelöst, und die Performance wurde selbst zur Spielwelt: Jeder Spieler konnte aus seiner eigenen Perspektive erleben, wie sich der Rapper als riesiges Hologramm über die Landkarte bewegte.
In Zeiten einer Pandemie sind solche Plattformen ein Segen für Kulturschaffende sowie interessierte – nicht nur Videospiele als Kulturmedium selbst, sondern auch als Ort für Kultur innerhalb von Spielwelten. Während Konzerte und Festivals abgesagt, Museen geschlossen sind, finden sie teils eine zweite Existenz in digitalen Welten.
Dies machten sich auch die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kunstvermittlungsprojekts von Art Lab zunutze, indem sie das Museumsgebäude der Fondation Beyeler im bereits existierenden Spiel «Animal Crossing: New Horizons» nachbauten. Mit der Unterstützung von Kunstpädagoginnen der Stiftung sowie der Game-Expertin Tonja van Rooij machten sie den von Renzo Piano entworfenen Bau online zugänglich. Besitzer des Nintendo-Switch-Spiels können hier ihre eigene Insel entwerfen und sich gegenseitig besuchen. Eine quirlige Biene (Beyeler bedeutet in Mundart auch Imker) empfängt junge und jung gebliebene Kunstbegeisterte auf der Beyeler-Insel. Dort sind auch Werke von Künstlern wie Claude Monet, Kasimir Malewitsch und Piet Mondrian zu sehen, aber auch «Der Denker» aus der aktuellen Ausstellung «Rodin/Arp» oder ein «Snowman» in Anlehnung an das Kunstwerk von Fischli/Weiss.
50 Jahre Game-Kultur im Château de Prangins
Die Videospiele haben übrigens auch noch auf andere Weise den Weg ins Museum gefunden. In der Ausstellung «Games» präsentiert das Château de Prangins die Entwicklung dieses Mediums von seinen Anfängen in den 70er-Jahren bis heute. Hier sind die Videospiele selbst Kultur. Besucher können Pioniere des Genres wie die Arcade-Klassiker «Asteroids» oder «Space Invaders» ausprobieren, die Schau geht aber auch auf Themen wie Spielsucht oder Gewalt in Videospielen ein. «Games» bietet einen guten Einstieg und Einblick in die Thematik der Videospiele.
Ausstellung: Games
Bis So, 10.10.
Château de Prangins VD
Games
Mundaun
(MWM Interactive 2021)
Auf Steam: https://store.steampowered.com/app/720350/Mundaun
Hors-Cadre
(DNA Studios 2021)
Fortnite
(Epic Games 2017)
Animal Crossing: New Horizons
(Nintendo 2020)
www.fondationbeyeler.ch