Zuerst wird Gianluca Cutrufello noch das Kabelknäuel entwirren müssen. Doch dann wird schon bald sein folkiger Blues den Raum füllen. Schliesslich hat er einige seiner Gitarren bereits an die Wand gelehnt, und sein E-Schlagzeug steht auf einem Teppich mit mexikanischem Muster bereit. Cutrufello, im Raum Basel seit Jahren als John Henry bekannt, hat sein kleines Studio erst vor einigen Wochen bezogen. Knapp zwölf Quadratmeter im Dachgeschoss der «Chaoszentrale» – der Ort, an dem John Henry wieder durchstarten will.
Vom Schaufenster des Ladens angetan
Das Künstlerhaus liegt an der Oberdorfstrasse im zürcherischen Hinwil. Ein blass lachsfarbener, dreistöckiger Giebelbau, eingebettet zwischen dem Kirchenhügel und der historischen Hinwil-Bauma-Bahn. Im Erdgeschoss gibt es ein Ladenlokal, durch dessen Tür jetzt Marco Schneider auf den Vorplatz tritt. Schneider hat die «Chaoszentrale» letzten Herbst ins Leben gerufen. Das Künstlerhaus ist gleichzeitig auch das Daheim seiner Familie. Er setzt sich mit einem Glas Tee auf den kleinen Gartensitzplatz neben dem Haus und erzählt, wie er damals sogleich vom Schaufenster des Ladens angetan war. «Es hat mich an ein Gemälde von Edward Hopper erinnert.» Tatsächlich kommt einem bei der abgerundeten Glasfront «Nighthawks» in den Sinn, jenes melancholische Hopper-Bild mit dem nächtlichen Diner und den drei schweigenden Menschen an der Theke. Freilich soll es in der «Chaoszentrale» fröhlicher zu- und hergehen. Schneider, seit 1999 als Kulturveranstalter tätig, will aus dem Haus einen lebendigen Künstlertreffpunkt machen. Im erhöhten Parterre hat sich bereits seine Lebenspartnerin, die Modedesignerin Nicole Hauri, ihren Arbeitsraum eingerichtet. Eine Illustratorin soll bald ebenfalls im Haus arbeiten. «Das ist alles noch am Entstehen», sagt Schneider und erzählt von Renovationsarbeiten und Atelier-Bewerbern.
Für einmal die gewohnte Umgebung verlassen
Irgendwann gesellen sich zwei zum Gespräch, die ebenfalls in der «Chaoszentrale» ein- und ausgehen: der Literaturperformance-Künstler D.T. Koller und Gianluca Cutrufello, der Musiker, der gerade sein Studio im Dachstock einrichtet. Koller war bereits einmal für einen Monat zum Schreiben in der «Chaoszentrale». «Für mich war es wichtig, mal die gewohnte Umgebung zu verlassen». Also habe er sich hier in ein Zimmer nur mit Tisch, Stuhl und Schreibmaschine zurückgezogen, um einen Text zu verfeinern. Cutrufello gefällts hier: «Ich habe zum ersten Mal ein eigenes Zimmer für die Musik, zuvor musste ich immer zuerst meine Matratze an die Wand stellen, wenn ich etwas aufnehmen wollte.»
Der junge Musiker musste seine Karriere wegen einer Leukämieerkrankung für mehrere Jahre unterbrechen. Während dieser Zeit sei er auch kaum je aus der Region Basel weggekommen, erzählt er. «Ich war wie gefangen.» Jetzt hofft er, dass ihn die neue Umgebung wieder etwas vorwärtsbringt.
Die Bedeutung von Künstlerresidenzen
Wie wichtig solche Räume für Künstlerinnen und Künstler sind, bestätigt auch Regine Helbling, Geschäftsführerin von Visarte, dem Berufsverband der visuell schaffenden Künstlerinnen und Künstler in der Schweiz. Künstlerresidenzen und Atelier-Stipendien seien ein wichtiges Instrument der Kulturförderung. «Sie bieten Künstlerinnen und Künstlern die Möglichkeit, neue Eindrücke zu sammeln. Aber eben auch, einmal ungestört und von Alltagssorgen befreit ein paar Monate arbeiten zu können», sagt Helbling. Visarte selber vergibt jedes Jahr vier Atelier-Stipendien in Paris, verschiedene Residenzen und ein spezifisches Atelier-Stipendium für Künstler mit Kindern. Zudem können Drittanbieter freie Residenzen auf der Homepage des Berufsverbandes ausschreiben. Gerade die Visarte-Stipendien seien sehr beliebt, sagt Helbling. «Teilweise erhalten wir über 100 Bewerbungen.»
Das Angebot solcher Künstlerresidenzen ist gross. Atelier-Stipendien vergeben etwa auch Pro Helvetia und eine Reihe privater Stiftungen, einzelne Kantone und die Städtekonferenz Kultur. Hinzu kommen die Angebote von unabhängigen Kulturhäusern oder die «Schreiborte», welche der Autorenverband AdS ausschreibt. Und ständig entstehen neue Atelierhäuser. Seit 2019 etwa besteht im sankt-gallischen Lichtensteig die «Dogo Residenz für Neue Kunst», und ab Mai wird das alte Primarschulhaus im bündnerischen Klosters temporär zum «Kunsthaus Klosters» mit einem Artist-in-Residence-Programm.
Marco Schneider führt durch sein Haus. Im Ladenlokal der «Chaoszentrale» hüpft ein gemächlicher Elektro-Rhythmus aus Lautsprechern. Dort, wo der Kulturveranstalter auf einem Beizentisch seinen Arbeitsplatz eingerichtet hat, werden bald wieder Konzerte und Lesungen stattfinden. Die Autorin Katja Brunner tritt dann hier auf, und Gianluca Cutrufello spielt als John Henry als Support-Act für den Country-Sänger Bob Spring.
Schneider steigt über knarrende Treppen ins Obergeschoss, wo er ein Wohnzimmer zu einem weiteren Atelierraum umbauen will. Fürs Erste laufe sein Vertrag für drei Jahre, sagt er. Wie es dann weitergehe, sei noch offen. «Es ist auch ein Experiment.» Auf dem Weg zurück ins Erdgeschoss zeigt Schneider auf Kunstwerke, die noch bis Ende April hier ausgestellt sind. Sphärische Fotoarbeiten der Künstlerin Barbara Heé. Oder eine Installation des jungen Pop-Art-Künstlers No Moral Art: ein kleiner Fernsehapparat, dessen Bildschirm zu einem ewigen Schwarz-Weiss-Flimmern erstarrt ist. Auf dem Flackerbild steht in weisser Schrift «Schalt mal ab.» Die Anweisung ist hoffentlich nicht an die «Chaoszentrale» gerichtet.
Konzert
Nadja Zela: Fr, 8.4., 20.00
Konzertlesung
Katja Brunner & Dadaglobal: Sa, 9.4., 20.00
Bob Spring – Album-Taufe
John Henry: Fr, 15.4., 20.00
Literaturabend
Pedro Meier: Fr, 22.4., 20.00
Chaoszentrale Hinwil ZH
www.echo.ooo
Tickets über www.ticketino.ch