kulturtipp: Frau Sidorova, Sie spielen an der Uraufführung von Erkki-Sven Tüür mit grossem Orchester. Für den Tango treten Sie mit Rockstars auf – wer sind Sie wirklich?
Ksenija Sidorova: Alles gehört zu mir. Ich bin in erster Linie Künstlerin, nicht nur Akkordeonistin.
Denke ich zu klassisch, wenn ich die Konzerte mit den Sinfonieorchestern als etwas Besonderes sehe?
Nein, überhaupt nicht: Die Sinfoniekonzerte sind Höhepunkte all meiner Bemühungen für dieses Instrument und meiner Karriere. Alles daneben, so gern ich es habe, rückt in den Hintergrund. Die klassische Musik ist meine Passion – bei aller Liebe zu den anderen Richtungen.
Das Akkordeon ist ein Volksmusikinstrument. Erhoben Sie es in den Klassikhimmel?
Das Akkordeon kommt tatsächlich von der Folklore. Aber in den letzten hundert Jahren gab es viele Veränderungen – vor allem in bautechnischer Hinsicht. In Italien und in Russland wurden hervorragende Instrumente hergestellt. Somit ist das Akkordeon heute ein klassisches Instrument, das seinen Platz mit eigener Identität auf der Bühne gefunden hat. Klar, das Volksinstrument gibt es noch, es ist berühmt, zum Beispiel das Schwyzerörgeli mit seiner langen Tradition. Aber das wird anders gespielt.
Es ist leicht für Sie, ein Instrument zu spielen, das jeder liebt.
Oh, nein, gar nicht! Für viele ist das Akkordeon eine Herausforderung. Die Konzertgänger sind bisweilen gar nicht so neugierig auf mich und mein Instrument.
Sind Sie eine Exotin im Klassikgeschäft?
Nein. Es ist eine ideale Zeit für mich: Viele sind offen für neue Künstler und Instrumente – Organisten, die tolle Solokarrieren machen, Mandolinenspieler, Gitarristen … Da passt das Akkordeon bestens rein.
Sie spielten mit dem Luzerner Sinfonieorchester – einem sehr modernen Orchester – aber noch nie mit dem TonhalleOrchester …
… wer sagt denn, dass das nicht bald kommen wird?
Sie wissen, wie sehr Sie eine Attraktion sind.
Es gibt Menschen, die mich mögen, andere nicht. Ich spiele mittlerweile so oft, da wäre es schön, wenn das Akkordeon etwas Normales würde. Ich jedenfalls fühle mich auf der Klassikbühne zu Hause. Aber bin ich eine Attraktion fürs Publikum? Ich weiss es nicht. Ich spiele mittlerweile so oft, bin in den verschiedensten Ländern, kehre bisweilen zu Orchestern zurück und fühle mich auf der ganzen Welt zu Hause. Ich liebe es, wenn die Musiker nach dem Konzert zu mir kommen, überrascht sind und kaum glauben können, wie gut mein Akkordeon sich mit ihren Instrumenten klanglich verbindet. Oder wenn sie staunen, was mit diesem Instrument alles möglich ist.
Sie spielen ein neues Instrument: Wie gut ist es?
Ein Rolls Royce! Es ist ein Top-Brand-Instrument von Piccini aus dem italienischen Städtchen Castelfidardo. Diese Familie produziert seit rund hundert Jahren Akkordeons, die immer revolutionär waren. Sie arbeiten mit uns Künstlern zusammen und gehen stets auf unsere Wünsche ein. Die sind sehr wach! Mein Modell zum Beispiel ist speziell auf meine Finger konstruiert. Und es hat eine Registration, mit der ich den Klang besser regulieren kann – das liebe ich. Mein Instrument ist besonders klangstark, sprich für grosse Säle geeignet.
Sie spielten Konzerte mit dem estnischen Festivalorchester unter Paavo Järvi. Und Sie traten mit Gidon Kremer und der Kremerata Baltica auf. Steckt da baltische Solidarität dahinter oder gar eine politische Botschaft?
Nein, ich mache auf der Bühne keine Politik. Aber für eine baltische – besonders für eine lettische – Musikerin ist es sehr speziell, mit Gidon Kremer zu spielen. Er ist einer der aussergewöhnlichsten Musiker aus meinem Land. Mit ihm zu spielen ist ein grosses Privileg, das jeden Musiker ehrt. Und als ich einst die tiefe Stimme an meinem Telefon hörte, «Hallo, ich bin Paavo Järvi, möchten Sie dieses Konzert mitspielen?», sagte ich ja, ohne das Datum abzuklären. Morgen Abend habe ich übrigens ein Konzert mit Krystian Järvi, seinem Bruder … Wir Balten halten zusammen, aber es ist keine politische Botschaft.
Ksenija Sidorova
Die Musikerin wurde 1988 im lettischen Riga geboren. Mit acht Jahren begann sie, Akkordeon zu spielen. Sie studierte später in London, gewann wichtige Preise und fand den Weg in die klassischen Konzertsäle, in TV-Shows und auf Popbühnen. Ihr Repertoire geht von Bach bis in die Moderne, der Tango gehört auch dazu.
CDs
Fairy Tales
(Champs Hill Records 2013)
Carmen
(DG 2016)