kulturtipp: Kolja Reichert, wer in den letzten Monaten das Feuilleton durchblätterte, konnte im Zusammenhang mit Kunst öfter das Kürzel NFT lesen. Was hat es damit auf sich?
Kolja Reichert: Digitale Kunst gibt es ja schon lange. Aber jetzt ist es erstmals möglich, Geld damit zu verdienen. Alle möglichen nicht fassbaren Kunstwerke, Texte oder Musikstücke können verkauft werden, ohne dass ein physischer Gegenstand den Besitzer wechselt. Bei NFT handelt es sich einfach um eine neue Art von Eigentumszertifikat (siehe Box, Anm. d. Red.).
Für Schlagzeilen sorgten vor allem die Millionenbeträge, die teilweise für solche Werke bezahlt wurden. Die Technologie gibt es eigentlich schon länger, weshalb hob NFT-Kunst gerade im letzten Jahr so ab?
Das Auktionshaus Christy’s versteigerte bereits 2017 Werke der klassischen Moderne, zu denen optional auch NFT angeboten wurden. Aber damals interessierte sich niemand dafür. Der Grund, weshalb der Markt ab Januar 2021 durch die Decke ging, hat sicherlich mit Corona zu tun. Gerade in den USA war die Arbeitslosenquote hoch, die Menschen sassen zu Hause vor den Computern und steckten das Geld, das sie über die Regierungshilfe bekommen hatten, in Krypto-Geld. Bitcoin und andere Währungen steigerten ihren Wert, plötzlich besassen viele Menschen grosse Vermögen. NFT-Werke stellten eine attraktive Anlageform dar – wie der klassische Kunstmarkt.
Welches Potenzial besitzt die Technologie für Künstlerinnen und Künstler?
NFT lösen womöglich ein lang bestehendes Problem des Kunstmarktes: die Tantiemen. Bisher lebte eine kleine Galerie stets in Angst, eine erfolgreiche Künstlerin an die nächstgrössere Galerie zu verlieren. Wer also zu Beginn einer Karriere in eine Künstlerin oder einen Künstler investierte, blieb auf den Investitionen sitzen. Gleichzeitig verdiente auch die Künstlerin nichts an den Erlösen, die ihre Werke bei späteren Auktionsverkäufen auslösten. Versieht man ein Werk – egal ob physisch oder digital – nun mit einem NFT, kann man die Gewinnausschüttungen automatisieren: Mit jedem Weiterverkauf geht auch Geld an die Künstlerin sowie die Galerie, die sie zu Beginn der Karriere förderte. Das ist eine Chance, die Vielfalt und Innovationsfähigkeit des Kunstmarktes zu retten.
Sie haben sich in Ihrem Buch «Krypto-Kunst» ausführlich mit NFT-Kunst befasst. Was zeichnet diese Werke aus, über die im letzten Jahr gesprochen wurde?
Viele dieser Werke beziehen sich auf Memes, schöpfen aus der Gaming-Ästhetik oder kommen aus 3D-Programmen. Oft ähneln sie den Demonstrations-Videos dieser Programme: Es sind abstrakte Gebilde oder Unendlichkeitsschlaufen, die sich drehen oder über irgendwelche optischen Effekte verfügen.
Kunstkritiker betrachteten Krypto-Kunst bisher vorwiegend kritisch – von Hobbymalerei ist da die Rede, von einer weiteren Investment-Blase. Zu Recht?
Die Frage, wie hässlich und banal NFT-Kunst ist, ist in meinen Augen bereits nicht mehr wichtig. Die hat uns im ersten Schreck und Schock beschäftigt. Was sich wirklich regt hier, ist eine neue Art, sich zu organisieren. Und die sollte man mit Neugierde, aber immer auch mit der gebotenen Skepsis beobachten.
NFT besitzt also ein avantgardistisches Potenzial?
Gerade unter Kreativen besteht die Hoffnung, dass diese Technologie es möglich macht, an grossen Plattformen vorbei eigene Märkte aufzubauen, gemeinsam zu produzieren und zu verwalten. Das ist eine spannende gemeinschaftliche Dynamik im Internet.
Verleiht NFT digitalen Kunstwerken eine Aura, die wir an digital reproduzierbaren Inhalten oft vermissen?
Mein Eindruck ist, dass die Aura das Kunstwerk verlässt und auf die Idee des Eigentums übergeht. Das Werk ist lediglich das Cover für den Besitz. Mit der Kunst kauft man wie auch bisher einen Zugang zu einer bestimmten Welt oder Szene. Es geht hier nicht immer nur um Gewinninteressen; da steckt auch ein Mäzenatentum dahinter – man unterstützt eine bestimme künstlerische Leistung.
Was müsste ein NFT-Kunstwerk erfüllen, damit es für Sie als Kurator spannend wird?
Es macht dann Sinn, ein NFT zu kaufen, wenn es einem nicht nur das Eigentum über etwas bescheinigt, sondern einem den Eintritt in eine gemeinsame Erfahrung ermöglicht. Die US-amerikanische Musikerin und Klangkünstlerin Holly Herndon zum Beispiel verkaufte Anteile am Instrument, das eine Art Klon ihrer Stimme ist. Wer ein Stück «Holly+» besitzt, entscheidet mit, welche Art Musik die Gemeinschaft mit diesem Stimm-Instrument macht. In diesem Moment wird die Technologie für mich interessant, denn sie ermöglich einem etwas, das man bisher nicht konnte: nämlich Kunstwerke mitzugestalten.
NFT
Ein Non-Fungible Token, ein «nicht austauschbares Token», ist ein individueller Datenblock, auf dem eingeschrieben steht, wer ihn programmierte, wessen Eigentum er ist und wem er zuvor gehörte. Es handelt sich also um ein fälschungssicheres Echtheitszertifikat, das aus einem digitalen Kunstwerk ein Unikat macht. Verzeichnet ist ein NFT in der sogenannten Blockchain, einer Art dezentralem Register.
Kolja Reichert
Der Autor und Journalist Kolja Reichert arbeitete als Kunstkritiker für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» und für die «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung». Seit Juni 2021 ist er Kurator in der Bundeskunsthalle Bonn.
Buch
Kolja Reichert
Krypto-Kunst – Digitale Bildkulturen
80 Seiten
(Wagenbach 2021)