Eigentlich waren es ja zwei Premieren in einer: Bernd Alois Zimmermanns Oper «Die Soldaten» wird zum ersten Mal in Zürich aufgeführt. Dabei inszeniert der katalanische Regisseur Calixto Bieito ebenfalls zum ersten Mal in Zürich. Diese Doppelpremiere fand am 22. September statt und veranlasste den Opernkritiker der NZZ, Peter Hagmann, zur Aussage: «Ein grosser Abend in der Geschichte des Opernhauses Zürich». Die Kritiken in vielen anderen Zeitungen waren nicht minder positiv. Ich selber werde diese Zürcher Inszenierung am 26. Oktober anschauen und mir anschliessend ein Urteil bilden. Der kulturtipp war dazu offenbar schon vor der Premiere in der Lage. «Es wird in Zürich voraussichtlich wieder zu Provokationen kommen», mutmasste er und berief sich dabei vor allem auf Bieitos Inszenierungen in Basel.
Nun habe ich die allesamt gesehen, von Verdis «Don Carlos» 2006 bis zu Brittens «War Requiem» in der Saison 2012/13. Dazu kamen einige seiner Inszenierungen in Berlin, Freiburg im Breisgau und Bern. Zugegeben: In Bieitos Inszenierungen fliesst tatsächlich des Öfteren Blut, und zuweilen ist nackte Haut zu sehen. Aber wer lässt sich denn heute noch durch Blut und nackte Haut provozieren, wo doch jede Tagesschau im Fernsehen voll davon ist? Calixto Bieito geht es gar nicht um Provokation; er stellt vielmehr szenisch dar, worum es in der Oper meistens geht: Um erfüllte oder verratene Liebe, um Leidenschaft bis zur Raserei, um Gewalt und Verbrechen, Tod, Verderben, Wahnsinn – also um die Gipfel und die Abgründe menschlicher Existenz. Und da es sich bei Opern nicht um Konzerte handelt, sondern um Musiktheater, darf und soll sich dessen Gegenstand eben auch szenisch artikulieren.
Was Calixto Bieito macht, ist also legitim. Wer ihn kennt, weiss, dass er seine manchmal drastischen Bilder nicht der Provokation wegen in Szene setzt, sondern, um das Thema des jeweiligen Stücks für das heutige Publikum kenntlich zu machen. Seine Inszenierung von «Carmen» zum Beispiel (die im Übrigen mit sehr wenig drastischen Bildern auskam) hat zumindest mir die Tragödie dieser starken Frau eindrücklicher vor Augen geführt als manche opulent ausgestattete «traditionelle» Aufführung, die in «spanischer» Folklore zu erstarren droht. Natürlich soll man das auch so aufführen dürfen. Das kann sehr erbaulich sein. Aber mit Verlaub: Das ist mir auf Dauer zu wenig, dann brauche ich die Oper nicht mehr.
Calixto Bieito ist nicht der Regie-Berserker, als der er gerne abgestempelt wird. Er ist vielmehr ein äusserst zurückhaltender, fast scheuer, sensibler Mensch, der einem mit leiser Stimme starke Bilder vor Augen führt und starke Geschichten erzählt. Was er zu sagen hat, sagt er sanft, aber genau auf den Punkt, zuweilen auch unerbittlich. Seine Geschichten sind deshalb stark, weil sie uns im 21. Jahrhundert etwas angehen. Provoziert haben sie mich noch nie – oder dann höchstens zu begeistertem Applaus.
Ins Theater gehen wir (ich für meinen Teil jedenfalls), weil uns die Künstler auf der Bühne und im Orchestergraben etwas über uns selber erzählen – mit Worten, Musik, Tanz und Gesang. Sie spielen ein Stück, und wir kommen darin vor. Wenn wir bereit sind, uns darauf einzulassen, in den Spiegel zu schauen, den sie uns vorhalten. Was wir in diesem Spiegel zu sehen bekommen, kann komisch oder traurig, gut oder böse, edel oder eklig sein – so, wie es unsere eigenen Empfindungen, Gelüste und Gedanken auch sein können. Wenn eine Inszenierung trifft und uns Zuschauern unter die Haut oder auch direkt ins Herz geht, dann hat sie ihre eigentliche Aufgabe erfüllt. Calixto Bieitos Inszenierungen erfüllen diesen Anspruch sehr oft.
Dass der kulturtipp-Autor nicht nur Calixto Bieito in eine Ecke stellt, in die er nicht gehört, sondern bei dieser Gelegenheit auch noch fast beiläufig gegen den ehemaligen Basler Operndirektor Dietmar Schwarz nachtritt (der nur «dank des publizistischen Erfolgs […] einen gewaltigen Karrieresprung» gemacht habe), sagt mehr über diesen Autor aus als über seinen Gegenstand. Dietmar Schwarz hat in seinen Basler Jahren hervorragende Arbeit geleistet, nicht nur, weil er Bieito ans Theater Basel holte. Seine Saison-Programme waren meist gelungene Mischungen aus Werken des klassischen Opern-Kanons, Werken des 20. Jahrhunderts, aus Operetten, Musicals und grenzüberschreitenden Darbietungsformen. Etliche Inszenierungen aus Dietmar Schwarz’ Ära bleiben in starker Erinnerung: Othmar Schoecks «Penthesilea» (Inszenierung Hans Neuenfels), Richard Wagners «Fliegender Holländer» (Inszenierung Philippe Stölzl) oder Jacques Offenbachs «La Grande-Duchesse de Gérolstein» (Inszenierung Christoph Marthaler). Ein nachhaltiger Erfolg war Schwarz auch mit dem Opernstudio «OperAvenir» beschieden. Deshalb ist das Theater Basel in seiner Amtszeit zweimal zum «Opernhaus des Jahres» gewählt worden. Deshalb auch wurde Schwarz als Intendant an die Deutsche Oper Berlin berufen. Nicht, weil die Kritiker das so wollten, sondern, weil er ganz einfach gut ist. Gleiches gilt übrigens für den Direktor des Dreispartenhauses in Basel, Georges Delnon. Dieser übernimmt demnächst die Staatsoper Hamburg. Auch ein ziemlich grosser Karrieresprung – und ein hochverdienter dazu.
Übrigens: Der Chor des Theater Basel ist soeben mit dem ehrenvollen Titel «Chor des Jahres 2013» ausgezeichnet worden. Insbesondere für seine Leistung in Benjamin Brittens «War Requiem». Chorleiter ist Henryk Polus, Dirigent dieser Produktion Gabriel Feltz, Regie: Calixto Bieito. Von wegen Ablaufdatum!
Gerd Löhrer
Als Sohn von Auslandschweizern wurde er 1945 in Schleswig-Holstein geboren. Nach der Rückkehr in die Schweiz wuchs er in Basel auf, studierte dort Nationalökonomie und war später als Wirtschaftsjournalist für «Bilanz», «Nationalzeitung», «Luzerner Neuste Nachrichten», «Blick» und «Zeit» tätig. Theaterfreund ist er seit jeher – in jüngeren Jahren Kabarettliebhaber, später dem Sprechtheater zugeneigt und dann eher spätberufener Opernfreund. Löhrer lebt in Riehen BS.