Kristina Schilke: Warten aufs Leben
Die deutsch-russische Autorin Kristina Schilke versammelt in ihrem Erzählband «Elefanten treffen» skurrile und tragikomische Geschichten aus der Provinz.
Inhalt
Kulturtipp 22/2016
Babina Cathomen
Verlorene Gestalten bevölkern Kristina Schilkes Geschichten im fiktiven bayerischen Kurort Waldesreuth: Hier trifft sich regelmässig eine anonyme Selbsthilfegruppe für Menschen, die unter Dehnungsstreifen leiden. Hier beobachtet eine schlaflose Mutter vom Fenster aus einen Mord und gibt der Polizei später zu Protokoll, dass sie nichts gesehen hat. Hier fällt einem jungen Mann ein Fussballtor mitten aufs Gesicht; nach der Operation verheilen die Narben zwar, aber seine...
Verlorene Gestalten bevölkern Kristina Schilkes Geschichten im fiktiven bayerischen Kurort Waldesreuth: Hier trifft sich regelmässig eine anonyme Selbsthilfegruppe für Menschen, die unter Dehnungsstreifen leiden. Hier beobachtet eine schlaflose Mutter vom Fenster aus einen Mord und gibt der Polizei später zu Protokoll, dass sie nichts gesehen hat. Hier fällt einem jungen Mann ein Fussballtor mitten aufs Gesicht; nach der Operation verheilen die Narben zwar, aber seine Beziehung geht in die Brüche, weil die Freundin seine Augen nicht wiedererkennt. Und hier wohnt ein Mädchen, das über den Verlust seines Haustiers nicht hinwegkommt: ein Igel namens Toni, den es aussetzen musste, nachdem das nachtaktive Tier monatelang den Schlaf der ganzen Familie gestört hatte.
Figuren durch feine Bande verknüpft
In jeder der 13 melancholisch-humorvollen Geschichten kommt ein anderer Ich-Erzähler oder eine Ich-Erzählerin zu Wort. Untereinander sind sie durch feine Bande verknüpft. So taucht etwa der junge Mann mit dem Gesichtsverlust in einer späteren Erzählung als Nebenfigur wieder auf. Er arbeitet als Pfleger in einem Altersheim, in dem der schüchterne Herbert aus der anonymen Dehnungsstreifen-Gruppe regelmässig seine Oma besucht und dabei einiges einstecken muss. Die alte Dame stellt dem bedauernswerten Herbert jedes Mal dieselbe Frage: «Was ist mit dir und den Frauen?» Noch nie hatte er darauf eine passende Antwort. Aber die Wende kommt bei einem Treffen seiner Selbsthilfegruppe: Mit der ebenfalls von Orangenhaut geplagten Sara entspinnt sich ein reges Gespräch, nachdem die andern schon gegangen waren: «An diesem Abend fand etwas statt, was mein Leben genannt werden konnte. Und in diesem Leben sass eine Frau spätnachts tatsächlich noch in meinem Haus und unterhielt sich mit mir.» Doch dann unterbricht ein Telefonanrufer die vertraute Stimmung mit der Nachricht, dass die Oma gestorben ist. Die Geschichte schliesst trotzdem versöhnlich. Sara fährt Herbert mitten in der Nacht zu seiner toten Grossmutter – und im offenen Ende liegt die Ahnung eines sich anbahnenden Liebesglücks zweier Einsamen.
Eine sensible Beobachterin
Die Figuren der 30-jährigen Autorin, die als 8-Jährige mit ihrer Familie von Russland nach Bayern ausgewandert ist, sind allesamt auf Glückssuche – mehr oder minder erfolgreich. Ihre Verlorenheit oder Ratlosigkeit gegenüber dem Leben ist in jeder Zeile spürbar. Die Schriftstellerin zeigt sich als sensible Beobachterin. Auch sprachlich vermag sie oft mit überraschenden Bildern zu überzeugen: Von der «unnatürlichen Dehnbarkeit des menschlichen Lebens» ist etwa im Altersheim die Rede. Und ebendort findet auch das «Brötchen-Elend» statt: Jeden Morgen stürzen sich die alten Leute auf den vollen Brotkorb, in der Hoffnung, unter den vielen Weissmehl-Brötchen eine der raren Vollkorn-Semmeln zu ergattern. Obwohl die Melancholie den Grundton der Erzählungen bildet, blitzt dazwischen immer wieder Schilkes subtiler Humor auf. Der am Literaturinstitut in Leipzig geschulten Autorin ist ein stimmiges Debüt gelungen, das auf mehr hoffen lässt.
Buch
Kristina Schilke
«Elefanten treffen»
224 Seiten
(Piper 2016).