Der doppelte Krimi aus England
Einen Krimi im Krimi liefert Anthony Horowitz mit seinem neusten Buch «Der Tote aus Zimmer 12». Der britische Schriftsteller und Drehbuchautor («Inspector Barnaby») versteht es, mehrere Handlungsstränge ineinander zu verflechten, ohne den roten Faden zu verlieren. Als Amateurdetektivin betätigt sich die ehemalige Lektorin Susan Ryeland, bekannt aus Horowitz’ erstem Band «Mord in Highgate». Inzwischen betreibt sie ein Hotel auf Kreta, kehrt aber nach England zurück, als das Ehepaar Trehearne sie in sein exklusives Hotel in der Grafschaft Suffolk an der britischen Ostküste einlädt. Dort wurde vor acht Jahren, just am Hochzeitstag der Tochter Cecily, ein Hotelgast ermordet. Der Fall erinnert an einen Krimi, den Susan einst lektoriert hatte. Weil Cecily nach der Lektüre des Krimis den Täter vermutlich entlarvt hatte und spurlos verschwunden ist, bitten die Trehearnes Susan um Hilfe. Diese macht sich auf Spurensuche im Hotel Branlow Hall, über dessen Eingang eine steinerne Eule (Bild) thront, die auch Horowitz’ Buchcover ziert. Nach dem ersten Drittel des Buchs webt Horowitz den Krimi mit dem ermittelnden Atticus Pünd ein, in dem die Lösung für den Mord in Branlow Hall versteckt ist. So bietet Horowitz’ neuster Streich wiederum einen raffiniert erzählten, gewitzten Krimi in klassischer Agatha-Christie-Manier, der bestens unterhält und zum Miträtseln anregt.
Anthony Horowitz
Der Tote aus Zimmer 12
Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff
601 Seiten (Insel 2022)
In den leeren Strassen Jerusalems
Der beliebte Rabbi Klein, der stets wider Willen mitten in einem Mordfall landet, macht für einmal Pause: Alfred Bodenheimer hat sich für seinen aktuellen Krimi «Mord in der Strasse des 29. November» eine neue, nicht minder sympathische Hobbydetektivin ausgesucht. Die Polizeipsychologin Kinny Glass ist froh um Ablenkung im Lockdown in Jerusalem (Bild), in dem die Strassen beinahe menschenleer sind und die Einsamkeit lauert. Als sie am Radio vom Mord an der Knesset-Abgeordneten Ruchama und deren Mann Gil erfährt, ist sie schockiert, da sie die beiden gekannt hatte. Zusammen mit dem leitenden Ermittler Nissim will sie den Mörder finden, zumal der Geheimdienst von einem Terrorakt spricht und kein Interesse an der Auflösung des Falls zu haben scheint. Der Autor und Judaistik-Professor Bodenheimer, der in Basel und Jerusalem lebt, lässt nebst dem Kriminalfall auch in das Innenleben seiner Protagonistin blicken, die in Familien- und Liebestrubel verstrickt ist. Vor allem aber reichert er seinen Krimi mit scharfer Gesellschaftskritik an und gibt einen Einblick in den Alltag Jerusalems während des Lockdowns, das korrupte System und die zerrissene jüdisch-israelische Gesellschaft. So ist Bodenheimers neuster Roman denn auch mehr packende Gesellschaftsstudie als Krimi.
Alfred Bodenheimer
Mord in der Strasse des 29. November
224 Seiten (Kampa 2022)
Verbrechen unter den Palmen der Karibik
Der junge Ermittler betrachtet das Skelett akribisch wie ein Wissenschafter: «Vorsichtig drehte ich den Schädel herum: zertrümmertes Stirnbein, Riss im Oberkiefer, gebrochener Unterkiefer.» Der Forensiker Michael «Digger» Digson hat die sterblichen Überreste eines Jungen vor sich, der seit Jahren verschwunden war. Digger gehört zu einer Elitetruppe auf der fiktiven Antillen- Insel Camoah, die an Grenada (Bild) denken lässt. Von dort stammt auch der 66-jährige Krimiautor Jacob Ross, der seit Jahrzehnten in Grossbritannien lebt. Mit seinem Roman «Die Knochenleser » hat er einen dichten, atmosphärischen Thriller geschrieben. Er spielt vor einer hierarchischen Gesellschaftskulisse in exotischem Ambiente. In dieser abgelegenen Gemeinschaft haben die meisten Frauen wenig und die Schwachen gar nichts zu melden. Aber es gibt Ausnahmen wie die charismatische Miss Stanislaus, die sich mit Digger unerschrocken an heikle Fälle wagt. Im Mittelpunkt der Ermittlungen stehen zwei Fälle: Die Suche nach dem Schicksal von Diggers Mutter, die bei einer Demon- stration ihr Leben verlor. Und das rätselhafte Verschwinden des Jungen, dessen Knochen Diggers berufliche Neugier weckten. Der Roman lebt von der Schilderung des köstlichen Ermittlerduos. Die beiden haben das Herz exakt auf dem rechten Fleck. Und vor allem wissen sie immer ein bisschen mehr als die Leserschaft, was zu einigen Überraschungen führt.
Jacob Ross
Die Knochenleser
Aus dem Englischen von Karin Diemerling
400 Seiten (Suhrkamp 2022)
Morden und Flirten in Tel Aviv
Es muss nicht immer der mürrische skandinavische Kommissar sein. Wie wäre es zur Abwechslung mit einem schwulen Ermittler aus Tel Aviv? Privatdetektiv Oded Chefer, der auf einer schillernden Party einen wichtigen Klienten treffen soll, hat gerade andere Dinge als seinen neuen potenziellen Fall im Kopf. Er findet den Sicherheitsmann äusserst attraktiv – und flirtet drauflos. Schon auf den ersten Seiten von Yonatan Sagivs Krimi «Der letzte Schrei» wird klar: Dieser bissige, salopp erzählte Krimi nimmt eine queere Perspektive ein. Der 36-jährige Ermittler ist chaotisch, schwatzhaft, impulsiv und voreingenommen. Nicht gerade die besten Eigenschaften für einen Privatdetektiv. Der scharfzüngige Schnüffler soll einen mysteriösen Fall aufklären, der in Israels wohlhabender Elite spielt, und kriegt es mit Mord, Menschenhandel und illegaler Einwanderung zu tun. Zudem greift Yonatan Sagiv einige brisante Themen auf. So stellt er beispielsweise Transphobie und Fremdenfeindlichkeit bloss, hinterfragt konventionelle Gendernormen und thematisiert den israelisch-palästinensischen Konflikt. Zudem bricht der Autor mit Klischees über die Glitzermetropole Tel Aviv (Bild), zeigt die Stadt jenseits von eleganter Bauhausarchitektur, coolen Cafés und schicken Shops. Die Handlung ist mitunter etwas vertrackt, aber der zynische Erzähler sorgt mit seinen sarkastischen Spitzen für einige Lacher.
Yonatan Sagiv
Der letzte Schrei
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
400 Seiten (Kein & Aber 2022)