Um die Entstehung von Simenons Kommissar Maigret ranken sich zahlreiche Legenden. Der belgische Autor selbst trug zu diesem Schöpfungsmythos bei: Im Aufsatz «Wie Maigret zur Welt kam» von 1967 erzählt er rückblickend, wie er während einer Reise als 24-Jähriger im Hafen im holländischen Delfzijl in einem «abgesoffenen alten Kahn» seine Schreibmaschine aufstellte. Bisher hatte er Groschenromane geschrieben und wollte sich nun an ein «schwierigeres, ja seriöseres Genre wagen». Und plötzlich entstand vor seinem inneren Auge eine Figur: ein massiger Herr mit Pfeife, Melone, dickem Mantel und Samtkragen. «Und weil es in meinem verlassenen Kahn so klamm war, verpasste ich ihm für sein Büro noch einen alten Gusseisenofen.»
Erster Auftritt einer Legende
Auf diese Legende bezieht sich auch der Verleger Daniel Kampa im Nachwort zum Krimi «Maigret im Haus der Unruhe» und ergänzt: «So schön die Geschichte auch ist, sie hat einen Haken: Sie ist nicht wahr.» Denn vor dem offiziell ersten Maigret-Krimi unter dem Titel «Maigret und Pietr der Lette» taucht die Figur bereits in anderen Büchern Simenons auf – am eindeutigsten im 1932 erschienenen Krimi «Maigret im Haus der Unruhe». Darin setzt Simenon erstmals den grummligen Kommissar in Szene. «Die Requisiten, die Atmosphäre, Maigrets Methode, seine Nachsicht mit den Schwächen der Menschen und sein Hang, ein ‹Schicksalsflicker› zu sein – alles ist bereits da», kommentiert Kampa.
Der in Zürich stationierte Verleger hat sich die Rechte für alle Simenon-Werke gesichert und gibt die Krimis und Non-Maigret-Romane teilweise in neuer Übersetzung oder mit einem Nachwort bekannter Autoren heraus. Ein literarischer Coup ist die deutsche Erstausgabe von «Maigret im Haus der Unruhe».
Bereits in diesem «Testlauf» vermag Simenon ab der ersten Zeile zu fesseln: Mitten in der Nacht taucht eine junge Frau in Maigrets Pariser Büro auf. Draussen herrscht, wie es sich für einen richtigen Krimi gehört, dicker Nebel. Und was die Unbekannte zu sagen hat, schlägt ein: «Ich habe gerade einen Mann umgebracht.» Maigret jedoch vermutet eine Verrückte und stopft sich bedächtig seine Pfeife. Als er das Büro kurz verlassen muss, entwischt ihm die junge Frau. Wie in einer klassischen Filmszene liegt dort, wo sie gestanden hat, nur noch ein «Taschentuch ohne Monogramm».
Vielfach übersetzt und verfilmt
Als der Kommissar am Morgen erfährt, dass ein Mann umgebracht wurde und vom Täter jede Spur fehlt, denkt er sofort an seine nächtliche Besucherin und macht sich auf den Weg zum Tatort. Soweit die packende Ausgangslage, die nicht zu viel verspricht: Maigret wird im Laufe der Ermittlungen im Haus des Mordopfers mit mysteriösen Gestalten konfrontiert und einige Spuren bis nach Le Havre verfolgen, bis er das Rätsel lösen kann.
Simenon (1903–1989) zeigt sich bereits in seinen Anfängen als geschickter Krimi-Schreiber. Immer noch gehört er zu den meistübersetzten Autoren der Welt, seine Bücher mit einer Auflage von rund 500 Millionen wurden vielfach verfilmt. Der erste «echte» Auftritt des berühmten Kommissars ist ein Muss für alle Maigret-Fans.
Buch
Georges Simenon
Maigret im Haus der Unruhe
224 Seiten
Übersetzung: Thomas Bodmer
(Kampa Verlag 2019)