25 Jahre lang besuchte ich Konzerte in Aarau in einem Saalbau, der irgendwann KuK (Kultur- und Kongresshaus) hiess. Zuhinterst war die Akustik am besten, aber alles andere als gut. Am 30. August 2021 kam der Zeitenwechsel. Als ich an jenem Montag um 10.15 Uhr die Reithalle betrete, plärrt das Armeespiel vom benachbarten Kasernenplatz los. Für drei Sekunden mischt es sich mit der 1. Sinfonie von Johannes Brahms – und dann bin ich endlich und zum ersten Mal mit dem neuen Saal und dem Argovia Philharmonic allein. Düster, ernst und grimmig sucht die 1. Sinfonie von Brahms ihren Weg – und ich dauernd einen neuen Platz, immer den Wunsch im Kopf: Der 20,45 Millionen teure Saal möge warm und voll klingen.
Ich sitze zuerst in der Mitte, Reihe 12, und höre einen prächtigen, aufgefächerten Orchesterklang: die Holzblasinstrumente präsent, die Bässe «da», die Geigen durchaus klar. Das Blech mischt sich wohlklingend in diese Vielfalt hinein.
Die Musiker müssen sich an den Saal gewöhnen
Ich gehe nach vorne in die Reihe 2, setze mich ganz links, die Geigen dominieren nun naturgemäss, ich höre aber auch die rechts sitzenden Bässe gut. Ich gehe in die letzte Reihe, erlebe den Klang nun etwas ferner, aber nicht minder prächtig. Gewiss: Das ist noch kein «Sound» wie in berühmten und 150 Jahre alten Schuhschachtel-Sälen, aber das heisst noch nichts. Für Euphorie ist es dennoch zu früh: Der Saal ist nämlich leer. Wenn da 550 Leute sitzen, ist vielleicht vieles wieder anders.
Nach 45 Minuten kommt Dirigent Rune Bergmann strahlend auf mich zu und sagt, ja trompetet: «Die erste Note gespielt, merkte ich, das ist grossartig, da ist etwas Spezielles. Ich weiss nicht, wie es im Saal klang, aber auf der Bühne war es toll. Alles sehr klar, die Musiker konnten sich sehr gut hören, vielleicht sogar zu gut. Das war für einige verwirrend. Aber bitte, wir brauchen Zeit, um uns an den Saal zu gewöhnen. In einer Stunde sieht das schon anders aus. In einem Jahr sowieso.»
Die Akustiksegel können anders gehängt werden
Der Chefdirigent des Argovia Philharmonic ist überglücklich. Gefragt, ob es der beste Saal im Kanton Aargau sei, schaut er verdutzt: «Jemand sagte mir eben, es sei der beste Saal in der Schweiz!» Kaum gesagt, lacht er schallend los, weiss selber, dass das Quatsch ist. «Ich habe in der Schweiz noch nicht so viele Säle gesehen, aber betreffend Aargau kann ich sagen: Die Reithalle übertrifft alle anderen. Jetzt schauen wir, wie wir im nationalen Vergleich dastehen.»
Vom ersten Geigenpult strahlt Ulrich Poschner ins Parkett. Die Akustik sei gut, sagt der Konzertmeister beglückt: «Wir sind momentan am durchsichtigen Ende. Hier auf der Bühne ist der Klang sehr analytisch, aber es ist dennoch sehr angenehm zum Spielen. Es braucht vielleicht noch etwas mehr Hall, damit sich die Instrumente zu einem Gesamtklang mischen. Wir sind erst am Anfang. Aber vielleicht ist es draussen im Saal schon gut genug?»
Die Akustiksegel über dem Orchester können noch anders gehängt, vieles ausprobiert werden. Es gilt, eine Grundeinstellung zu suchen, Erfahrungswerte zu sammeln, später dann kann man gar mit dem modulablen Saal zu spielen beginnen. Cellist Benjamin Nyffenegger, der sonst im Zürcher Tonhalle-Orchester sitzt, bläst ins gleiche Horn: «Die Musiker und der Saal brauchen Zeit: Das war in der Maag in Zürich auch so.»
In erster Linie ist die Reithalle ein Theater
Die Maag, Zürichs Ausweichspielstätte während der Tonhalle-Renovation, war ein Klang gewordenes Glück aus Holz. Aber sie wurde auch wie die Aarauer Reithalle in eine bestehende Halle hineingebaut. Man sollte diese zwei Säle nicht mit den Sälen in Zürich, Genf, St. Gallen oder Bern vergleichen, sondern viel eher mit dem «Don Bosco» in Basel: Auch dort entstand ein hochmoderner, modulabler Saal aus einem bestehenden Raum, aus einer Kirche.
Bei allem Schwärmen über diese Konzertsäle sollte nicht vergessen werden, dass die Reithalle in erster Linie ein Theater ist, «Bühne Aarau» genannt. 320 Tage im Jahr wird in der Halle Theater gespielt, auch dem Festival cirqu’Aarau soll sie Platz bieten. Gerade mal 40 Konzerttage gehören dem Argovia Philharmonic – inklusive Proben. Dafür bezahlt das Orchester 85 000 Franken – und erhält das Recht, drei Jahre im Voraus die Termine festzulegen. Wichtig aber ist, dass die ganze Kompetenz für sinfonische Musik in der Reithalle beim Argovia Philharmonic liegt.
Auf einmal erscheinen 40 Spieltage als wenig
Jedes Gastensemble, das anfragt, muss beim Orchester anklopfen. Kein Zweifel, dass es da bald sehr oft klopfen wird – und plötzlich erscheinen die 40 Tage plus jene Tage, die das Theater nicht verplant hat, als sehr wenig. Zumal das Orchester seine Tätigkeit ausbauen wird. Noch ist die Zahl von fünf Abo-Programmen – den sogenannten Zyklen – heilig. Jetzt sagt Argovia-Philharmonic-Präsident Jürg Schärer: «Der sechste Zyklus ist ein Thema und auch von unserem Chefdirigenten erwünscht.»
Die Herausforderung wird also sein, wie Theater und Sinfonieorchester aneinander vorbei- und miteinander auskommen. Wie auch immer: Das düstere c-Moll wechselt bei Brahms’ 1. Sinfonie am Montagmorgen in strahlendes C-Dur. Die bange Frage, ob die Reithalle gut klingt, kann auch ohne Vollbelegung freudig bejaht werden. Dieser Saal sagt dem Gast und dem Orchester: «Willkommen!»
Erste Aufführungen
Reitpalast – Multisparten-Eröffnungsprogramm
Sa, 16.10.–Fr, 22.10., jew. 19.30 (So: 19.00)
Eröffnungskonzert Argovia Philharmonic
Fr, 29.10., 19.00 / Sa, 30.10., 18.00 / So, 31.10., 17.00 Reithalle Aarau
www.argoviaphil.ch
www.buehne-aarau.ch