Aus der Ferne wummert ein Beat, der sich beim Näherkommen mit Stimmen und Gelächter durchmischt. Beim Eintreten in den Probenraum schmettert Steff la Cheffe einen Rap ins Mikrofon, reckt die Faust in die Höhe: «Gott isch gross, und Hexe brönne lichterloh!» Ein Spiegel auf der weissen Bühne reflektiert das Geschehen: Alice wird in die Mangel genommen. «Wer bisch denn du?», fragt die Gouvernante mit süsslich-falscher Stimme. Alice zögert: «Hüt morge han igs no gwüsst. Jetz weiss igs nüm so gnau …» Ein Dialog, wie man ihn leicht abgewandelt aus Lewis Carrolls «Alice im Wunderland» kennt.
Ein Mädchen auf dem Weg zur Selbstbestimmung
Ansonsten ist vom Text des Klassikers nicht mehr viel übrig, erklären Rapperin Steff la Cheffe, Choreografin Annalena Fröhlich und Musiker Fabian Chiquet in einer Probenpause. Das surreale Setting hingegen lehnt sich an Carrolls Roman an: Im Mittelpunkt steht die junge Alice, die ihren Weg zur Selbstbestimmung sucht. Sie landet in einer Fantasiewelt, einem Traum, der seiner eigenen Logik folgt, und begibt sich auf einen «Mind Trip»: Dort begegnet sie schrägen Figuren, die an ihr vorbeipalavern und von freundlichem Verhalten urplötzlich ins Aggressive kippen. Mit den widersprüchlichen Meinungen, wie Alice zu sein hat, führen die Figuren sie in die Irre.
Weder die blaue Raupe noch der verrückte Hutmacher oder andere Protagonisten aus dem Wunderland werden im Musiktheater «Alice» einen Auftritt haben. Die Figuren im Stück sind aus Interviews mit Frauen aller Altersklassen, Schichten und politischer Gesinnung entstanden, vermittelt von der Organisation Terre des Femmes. Fabian Chiquet hat ihnen Fragen zum Frausein gestellt: «Wann hast du zum ersten Mal gemerkt, dass du ein Mädchen bist?» oder «In welchen Momenten wird dir im Alltag bewusst, dass du eine Frau bist?» Die daraus entstandenen Geschichten hat das kreative Trio verfremdet, mit eigenen Erfahrungen ergänzt und öffentliche Gender-Debatten verfolgt.
Das Thema mit Humor angehen
So hat sich auch Steff la Cheffe ihre Gedanken zur Rap-Szene gemacht: «Die Hip-Hop-Kultur zelebriert das Machotum offen, während es in der Gesellschaft subtil, manchmal offensichtlich wie bei Trump und Co. hervorkommt.» Und sie erzählt von prägenden Sprüchen: «Oft höre ich: ‹Wirklich mutig, dass du dich als Frau in die Rap-Szene traust.› Da versucht dir jemand, ein Kompliment zu machen, das ich als Beleidigung empfinde …» Choreografin Annalena Fröhlich erinnert sich an Schulzeiten: «Im Unterricht bekam ich nur Männergeschichten zu hören. Frauenschicksale, mit denen ich mich identifizieren konnte, wurden mir nie erzählt. Und wenn, dann verzerrt.»
Aus solchen Erfahrungen kreiert das Trio in ihrer ersten Zusammenarbeit stereotype Figuren in comichaft-überzeichneten Kostümen. Alice begegnet ihnen in ihrer Traumwelt: Etwa «Rüedu», ein Mädchen, das sich mit den klassischen Frauen-Attributen nicht identifizieren kann. Sie trägt einen Muskelanzug, mit dem sie überall anstösst. Oder die eingangs erwähnte Gouvernante, die sich in kruder Logik für das Patriarchat einsetzt: «Froue händ der Menschheit richtig übel mitgspielt. Dänk nur emol and … and … Kleopatra! Oder … d’ Margaret Thatcher – oder d’Sissi!» Bei dieser Szene bricht das Theaterteam in Gelächter aus.
«Uns geht es darum, das omnipräsente Gender-Thema lustvoll und spielerisch auf die Bühne zu bringen», sagt Fabian Chiquet, der mit seiner Band The Bianca Story auch in der Theaterszene aktiv ist. «Wir wollen weder moralisieren, noch eine Antwort darauf geben, wie das Zusammenleben funktionieren soll, sondern mit Witz zur Debatte beitragen.»
Energiegeladene Proben
Die Inszenierung ist alles andere als eine staubtrockene Geschichtslektion zur Frauenbewegung. Alice Schwarzer, Iris von Roten oder die Suffragetten klingen zwar im Stück an, werden aber in eine surreale Welt eingebettet, in welcher der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind. Elektronische Musik von Fabian Chiquet und Maurice Könz gibt im Takt des Sekundenzeigers – eine Reminiszenz an das Zeit-Motiv in «Alice im Wunderland» – den Rhythmus vor. Das Publikum wird hineinkatapultiert in Alices Welt – mit Rap und Tanz, Video und Musik und den vom Klassiker inspirierten absurden Dialogen.
Das Theaterteam befeuert sich in den energiegeladenen Proben gegenseitig, lässt aus der Improvisation neue Ideen entstehen. «Mini Wert si nid mini Wert!», skandieren die Schauspielerinnen, angetrieben von Steff la Cheffe. Die Hauptfigur Alice lässt sich am Schluss nicht mehr von den widersprüchlichen Erwartungen an ihre Rolle als Frau verwirren. Sie hat gemerkt: Werte und Normen werden von der Gesellschaft vorgegeben – doch das Korsett lässt sich sprengen.
Alice
Premiere: Sa, 25.11., 19.30
Vidmar Bern (ausverkauft)
www.konzerttheaterbern.ch
Di, 5.12./Do, 7.12./Fr, 8.12., jew. 20.00 Theater Roxy Birsfelden BL
Do, 30.11. & Sa, 2.12., jew. 20.15 Fr, 1.12., 21.00 Theater Tuchlaube Aarau
Di, 12.12. & Mi, 13.12., jew. 20.00 Theater Neumarkt Zürich