Eine gigantische Brahms-Büste steht im Eingang von Mario Berettas Zürcher Altstadtwohnung. Brahms ist eines von Berettas Idolen. Die Sinfonien des deutschen Romantikers hat er mehrmals dirigiert. Und fürs Dirigieren schlägt sein Herz. Mehr als fürs Klavierspielen oder Komponieren. Trotzdem: Aus dem musikalischen Material, das er für Fredi Murers Film «Vitus» schrieb, hat er eine neue Fantasie komponiert, die nun in Zürich zur Uraufführung kommt.
Früher leitete Mario Beretta in Zürich sein eigenes Orchester, die Camerata academica, für die er etliche Werke komponierte. Das waren hauptsächlich Stücke für Streichorchester mit wenig Bläsern. Beretta beherrschte aber auch grosse Besetzungen. Für fast 1000 junge Musiker schrieb er zur Eröffnung der Expo.02 die Hymne «A Song of Earth».
Da kam er in letzter Minute auch als Dirigent zum Einsatz: Andrey Boreiko sollte das Konzert im Luzerner KKL dirigieren. Doch dieser fand keinen Draht zu den jungen Musikern. «Bei der Fernsehprobe drückte er mir den Stab in die Hand: Mario, kannst du übernehmen? Zwei Nächte habe ich gelernt, geflucht über den Komponisten und seine Taktwechsel …» Doch schliesslich kams zum Schlüsselerlebnis: «Da habe ich gespürt, dass ich Dirigent bin: 1000 Leute zusammen auf meinem Taktstock, die Aufmerksamkeit, die Ausstrahlung, die Kraft des gemeinsamen Atmens, das sind unglaublich starke Momente.»
Vom Traum zur Realität
Schon der sechsjährige Mario träumte davon, Konzertpianist zu werden. Aber Klavierstunden erhielt er erst ab der fünften Klasse – bei der Kochschullehrerin. «Wir waren nicht arm», sagt Beretta, «aber man hat bescheiden gelebt.» So rückte die grosse Pianistenkarriere in weite Ferne. Stattdessen verschlug es ihn ans Theater: Von 1975 bis 1985 wirkte er als «musikalischer Mitarbeiter» am Zürcher Schauspielhaus. «Da habe ich wirklich Komponieren gelernt, denn: Was mache ich mit einem Fagott im Puppentheater? Wie schaffe ich innert Sekunden die richtigen Stimmungen?»
Die Grundlagen hatte er vom Konservatorium mitbekommen. Und er verfolgte die Musik seiner Kollegen aufmerksam. Den polnischen Komponisten Witold Lutoslawski (1913–1994) hat er immer bewundert, oder den finnischen Komponisten Einojuhani Rautavaara. «Aber die Zirkel der Avantgarde waren mir zu verbohrt. Ich wollte dramaturgisch denken, und das habe ich bei diesen tollen Regisseuren am Schauspielhaus gelernt.»
So lag der Schritt zum Kino nahe. Mit dem Filmschaffenden Franz Rickenbacher arbeitete er zusammen bei «La Nuit de l’éclusier», für Rolf Lyssy schrieb er 1994 die Musik zu «Ein klarer Fall». Und mit Fredi Murer ergab sich ab «Höhenfeuer» 1985 eine enge Zusammenarbeit, die später in «Vollmond» und 2006 in «Vitus» weitergeführt wurde. «Mit Murer erlebte ich eine unglaubliche künstlerische Symbiose: Er redete gar nicht mit mir, sondern sagte einfach: Da und da brauche ich Musik.»
Für «Vitus» brauche er gar keine zusätzliche Musik, habe er zu ihm gesagt. «Aber Murer hatte klare Vorstellungen für gewisse Stimmungen und für die Liebesgeschichte», erzählt Beretta, und so habe er als Kontrast zum lebendigen Klavierspiel des Buben mit elektronischen Streicherklängen gearbeitet.
Längst nicht alle Musik fand den Weg in die geschnittene Filmfassung. Deshalb plante Beretta schon lange eine «Vitus»-Paraphrase, wie sie nun in Zürich aufgeführt wird. Die «Vitus-Fantasie» ist keine sinfonische Filmmusik; Beretta will den Spielern vielmehr etwas zu tun geben: «Die Streicherlinien sind im Film sehr flächig. Das habe ich aufgebrochen. Ich habe mit den Sphären des Films gespielt und die Themen gegeneinander gesetzt.»
Verbindung nach innen
Ebenso hielt es Beretta mit der «Suite alpestre», die im gleichen Konzert uraufgeführt wird. Auch da erhält der Akkordeonist seine virtuosen Auftritte, und für den Chor gibt es anspruchsvolle Aufgaben mit schnellen Repetitionen oder Sprech-Passagen. Beretta verbindet äussere Stimmungen – wie Morgen im Gebirge, Regen, Festfreude – mit inneren Konflikten. Musik ohne dramaturgischen Hintergrund, das wird es vom 71-jährigen Mario Beretta wohl nie geben.
Konzert
So, 5.1., 17.00
Kirche St. Peter Zürich
Mario Beretta: Klavierkonzert, Vitus-Fantasie für Klavier und Streichorchester (Uraufführung), «Suite alpestre» für Chor, Akkordeon und Streichorchester (Uraufführung)
L’Orchestre de Chambre de Genève Ensemble Le Canard Chipeau; Leitung: Jérôme Kuhn, Solist: Phillipe Morard, Klavier, Dirigent: Mario Beretta.