Oberhalb des Städtchens Maienfeld im Bündner Rheintal, eine gute Stunde Zugfahrt von Zürich, liegt der Weiler Rofels. Ein altes Rathaus, daneben das Heidimuseum, das Heerscharen aus Japan und dem Orient besuchen. Dazu ein paar Wohnhäuser in Ober- und in Unterrofels, wo auch ein Bauernhof steht. Es ist eine Idylle. Ich wohne im Nachbardorf Fläsch und bin wohl schon hundertmal über Rofels nach Malans gewandert, wo meine Eltern wohnen. Ein schöner, dreistündiger Gang durch Eichenwälder, über Wiesen und durch Weinberge. Jüngst ging ich ihn wieder – und wurde schwermütig. Der Eingang zu Unterrofels ist zerstört. Wo ein Flurweg war, gesäumt von einer Trockenmauer und ein paar Bäumen, ist nun eine breite, asphaltierte Strasse. Die Steine sind fort, die Bäume gefällt. Am Strassenrand wird, eingepackt in weissen Plastik, Heu gelagert.
Die verschwundene kleine Landschaft ist mehr als der Kummer meiner empfindsamen Wandererseele, die nicht begriffen hat, dass die Bauern für ihre grossen Traktoren schnelle Fahrt brauchen. Und dass eine Strasse ohne Teer im 21. Jahrhundert keinen Platz hat. Sie verweist auf ein politisches Problem. In der Schweiz haben in Gemeinden oder Kantonen und beim Bund Vorlagen, die Landschaft schützen wollen, breite Unterstützung gefunden: Landschaftsinitiativen, Revision des Raumplanungsgesetzes (RPG), Zweitwohnungsinitiative, auch in der Gemeinde Maienfeld gibt eine Ortsplanungsrevision dem vernünftigen Umgang mit Landschaft Gewicht. Doch unbeachtet geschieht landauf, landab das präzise Gegenteil des versammelten Willens – in und vor allem ausserhalb der Bauzonen. Da eine Baumreihe weg und eine Kurve begradigt, dort ein Parkplatz für Ausflügler vergrössert oder eine Halle für den Bauern aufgestellt, der darin Maschinen versorgen oder zehntausend Hühnchen mästen will.
Im Netzwerk der Zerstörer sitzen Beamte der Meliorations- und Bauämter, Landschaftsarchitekten, Bauern und andere Nutzniesserinnen und natürlich die Tiefbauunternehmer und Menzi-Muck-Fahrer. Alles gute Menschen, gut ausgebildet, alle arbeiten so, wie ihr Beruf es verlangt, sie halten sich an alle Vorschriften und zerstören dennoch die Landschaft. Ihre Macht heisst Gewohnheit: Tief im letzten Jahrhundert bestand ein Konsens, wie das Landwirtschaftsland Schweiz modernisiert werden soll. Und man beschloss, dass dafür Tief- und Hochbau staatlich zu fördern sei. Milliarden flossen in die Melioration. Seit hundert Jahren ist im ländlichen Raum nichts so heilig wie der Strassenbau. Der Kanton Graubünden parkiert dafür in seinem Budget 118 Millionen für Haupt- und Verbindungsstrassen, dazu kommen etliche Millionen für Gemeinde- und Meliorationsstrassen wie die von Rofels. Einige werden Landschaften bereichern, etliche aber werden Landschaften zerstören. Unbedacht, ungewollt, einfach so.
Alle Kritik an den Eingriffen war und ist wirkungslos. Bei grossen Vorhaben gibt es ab und zu Widerstand von Bürgerinnen und Landschaftsorganisationen, die kleinen Eingriffe wie der in Rofels summieren sich. Kaum jemand reklamiert, kaum jemand überlegt sich, wie man es gescheiter anstellen könnte, und ich staune, wie schnell das Bild der einst schönen Gegend auch mein Bildergedächtnis verlassen hat.
Die Macht der leisen Zerstörung heisst auch Standard des Tiefbauingenieurs. Ich besuchte neulich eine Tiefbauschule. Mich haben die technisch-mathematischen Fertigkeiten der Ingenieurstudenten beeindruckt, mit denen sie sich in den Normenkatalogen auskennen. Für den Schnee, für den Regen, für die Fussgänger, für die Automobile, für die die Strasse überquerenden Hasen gibt es Normen, welche die Studenten virtuos zu einem Entwurf zusammenfügen. Mich hat aber ebenso beeindruckt, dass soziale Fantasie – muss überhaupt gebaut werden? – und Neugier auf den kleinstmöglichen Eingriff überhaupt keine Themen sind. Das Netzwerk hat sich gut eingerichtet in der Erwartung, dass Gelder in den Strassenbau noch lange munter fliessen werden.
Und die Macht des eingespielten Netzwerks der alltäglichen Landschaftszerstörung heisst natürlich auch Finanzierung. Müssten die Anrainer die Sanierung eines Weges nach dem Verursacherprinzip selbst bezahlen, würde manch ein Weglein nicht vernichtet. Man würde zusammen mit verständigen Wegmachern den kleinstmöglichen und vertretbaren Eingriff für die Zeit und nicht für die Ewigkeit suchen. So aber heisst es: Der Kanton zahlt, der Bund zahlt – also fort mit der Mauer, fort mit dem Baum, verbreitert wird die Strasse und geteert. Und schon wieder ist ein kleines Stück Landschaft in der Unachtsamkeit, dem Profit und der Gleichgültigkeit verschwunden.
Köbi Gantenbein
Der Autor ist 1956 geboren und im bündnerischen Malans aufgewachsen. Er ist Chefredaktor von «Hochparterre», der Architekturzeitschrift der Schweiz. Köbi Gantenbein arbeitet in Zürich und lebt in Fläsch im Bündner Rheintal.