Dank der achtjährigen Intendanz von Christian Weidmann erlebte das Argovia Philharmonic lokal einen Aufschwung. Er modernisierte das Aargauer Symphonie Orchester und machte daraus das Argovia Philharmonic: Damit wurde es auf die Ebene der Schweizer Berufsorchester gehievt. Weidmann hatte das Orchester aus der Reserve gelockt – manchmal bis zur Überforderung. Zwischenzeitlich bot die kleine Organisation 180 Veranstaltungen. Die Zahl der Abonnenten stieg zusammen mit der Anzahl Veranstaltungen munter an.
Jetzt, wo Weidmann die Früchte ernten könnte, tritt er etwas überraschend ab. Er sagt aber, dass es der richtige Zeitpunkt sei: «Das Orchester hat ungemein grosse Fortschritte gemacht: Ein neuer Chefdirigent ist da, bald ein neuer Saal – das Netzwerk funktioniert.» Mit dem Antritt von Chefdirigent Rune Bergmann und dem Bezug der Alten Reithalle, die modern umgebaut wurde, beginnt eine neue Ära. Weidmann wechselt zum Orchestra della Svizzera italiana (OSI), zu einem Klangkörper mit langer und grosser Tradition. Davon allerdings kann man sich heute wenig kaufen.
Die Qualität muss über allem stehen
Einst war das Tessiner Radiosinfonieorchester wohlbehütet (quer)subventioniert, seit 2017 behauptet es sich mehr oder weniger allein. Statt Radioorchester könnte sich das OSI heute «Residenzorchester des LAC Lugano» nennen, Orchester des «Tessiner KKL». Ob solcherlei Attribute viel helfen würden? Trotz strahlender Vergangenheit, berühmten Gast-Solisten und tollen CD-Einspielungen ist das OSI ausserhalb des Tessins kein grosser Name mehr. Noch viel weniger sind es allerdings das Argovia Philharmonic und seine Reithalle ausserhalb des Aargaus.
Da stellt sich die Frage, was ein regionales Orchester überhaupt erreichen kann. Weidmann meint, dass es die Region, in der es verankert sein wolle, breitenwirksam bespielen müsse. «Es ist aber entscheidend, dass die Qualität über allem steht. Das Orchester muss sich ständig auf allen Ebenen verbessern und erneuern.» Das gelte allerdings für Orchester mit regionaler, nationaler oder internationaler Ausrichtung. «Wichtig ist, dass man die Arbeit zu Hause gut macht und über längere Zeit hohe Qualität bietet. Was es kann, ist eine Frage der Zielsetzung. Das Argovia Philharmonic hat nun dank der Reithalle eine Riesenchance. Vor Ort wird man Energien freisetzen, die weit über den Aargau hinausstrahlen können. Setzt man die Ziele hoch, ist vieles möglich.»
«Vogel friss oder stirb» – die Devise verleiht Flügel
Aber dieses «viele» ist heutzutage weit auslegbar: Einst war es für ein grosses Orchester eine Nordamerika-Tournee, bald wurde es der Opus-Klassik-Preis oder Millionen Abonnenten auf einem Youtube-Kanal. «Oder zeigt sich die Anerkennung ganz einfach in handgeschriebenen Dankesbriefen vom glücklichen, traditionellen Publikum?», fragt Weidmann. «Wir brauchen das Publikum, und das Publikum braucht uns. Aber der Begriff Publikum wird dehnbar, ist nicht mehr nur jenes, das im Saal sitzt. Dafür ist ein Saal zu klein und die Botschaft eines Orchesters zu gross – und zu wichtig. Wir müssen für unsere Botschaft viele Wege suchen.»
Die Konkurrenz des Argovia Philharmonic spielt nicht in Aarau, sondern in Zürich, Luzern und Basel. Das Orchestra della Svizzera italiana aber hat die Konkurrenz im eigenen Haus: «Lugano Musica» bringt die besten Orchester der Welt ins LAC. Chicago Symphonie, die Wiener oder Berliner Philharmoniker. Mit dieser Situation aber hatte sich ab 1998 auch das Luzerner Sinfonieorchester (LSO) auseinanderzusetzen. Die Devise «Vogel friss oder stirb» verlieh dem LSO Flügel.
Und zeigt die Corona-Krise nicht etwa, dass es gar nicht so viele Orchester braucht? Genügt es vielleicht, wenn in Basel, Mailand und Zürich auf Top-Niveau Beethoven gespielt wird? Diesem Gedanken widerspricht Weidmann heftig. «Nur Basel und Zürich allein reichen nicht. Die Basler Musiker haben genauso einen Auftrag für den Kanton Basel, wie wir ihn für den Kanton Aargau oder das OSI für das Tessin wahrnehmen. Aber die Basler Orchester können den Auftrag für den Aargau nicht übernehmen. Wir haben in der Schweiz nicht zu viele Orchester.»
Konzert
Orchestra della Svizzera italiana
Do, 19.11., 20.30 Lac Lugano
CDs
The Rossini Project Vol II: From Naples to Europe
Orchestra della Svizzera italiana
(Concerto Classics 2020)
Mozart Concerti
Klavierkonzert C-Dur KV 467 & Fagottkonzert B-Dur KV 191
Argovia Philharmonic
(Coviello 2018)