Die Kirchen waren gesprengt oder zu Restaurants oder Kinosälen umfunktioniert. Es war unmöglich, eine Orgel aus der Nähe zu sehen. Und doch wurde aus Iveta Apkalna, 1976 in dunkler Sowjetzeit in der Kleinstadt Rezekne geboren, eine Organistin – gar die wohl berühmteste der Welt. Und so will sie denn 1985 mit neun Jahren Musikerin werden: Pianistin. Nur fünf Jahre später veränderte sich die Welt, die Sowjetunion zerfiel, Lettland entstand ein zweites Mal.
Das war entscheidend für das musikalische Leben von Apkalna. Heute sagt sie dazu: «Mit der singenden Revolution kam endlich die Möglichkeit, eine Orgel zu sehen und zu berühren, denn ab 1990 waren die Kirchen wieder offen.»
«Warum riskiert keiner einen Orgelabend?»
Ein Jahr später, Apkalna war 15 Jahre alt, wurde in ihrer Heimatstadt die erste Orgelklasse eröffnet: «Ich war die erste Studentin im unabhängigen Lettland. Ich fühlte mich mit der Orgel unglaublich wohl. Entscheidend war, dass ich damals mit 15 Jahren am richtigen Ort in Lettland war: Ich habe die Orgel nicht nur ausgewählt, sondern sie hat mit meinem Leben und dem Schicksal meines Heimatlandes zu tun.»
Doch die Fragen blieben: «Will ich wirklich Organistin werden? Kann ich das?» Gleichzeitig fragte sie sich: «Warum ist die Orgel ein Stiefkind der Klassik? Wir nennen sie ‹Königin der Instrumente›, aber niemand hört sie. Warum riskiert niemand einen Orgelabend? Alle hatten Angst, dass da kein Publikum kommen würde. In den Programmen waren keine Orgelwerke zu finden.»
Kein Verstecken auf dunklen Emporen
Apkalna überlegte, welche Programme sie anbieten müsste. Und dann galt es, mit der eigenen Persönlichkeit zu überzeugen: «Die Orgel hat es verdient, auf der gleichen Ebene, auf der gleichen Bühne mit dem Cello, der Geige oder dem Klavier zu stehen. Ich kämpfte dafür.» Heute tritt Apkalna in den grössten Konzertsälen der Welt auf, und berühmte Komponisten schreiben Werke für sie.
Auf über einem Dutzend Aufnahmen ist sie zu hören, sie war die erste Organistin, die einen «Echo» gewann, stand bei der Verleihung mit Anne-Sophie Mutter auf der Bühne. Ein Schuss Spektakel kommt bei Apkalnas Konzerten ab und an auch hinzu: Im Sommer etwa tritt Apkalna jeweils ein Mal im traumhaft schönen Badeort Jurmala ausserhalb Rigas auf: Um 4.30 Uhr in der Früh spielt sie am Strand vor 5000 Zuhörerinnen und Zuhörern.
«Ich kannte den Geruch der Bühne»
Dass sie schon früh als Pianistin auftrat und wusste, wie man sich auf der grossen Bühne bewegte, kam ihr bestimmt zugute. «Ich kannte den Geruch einer Bühne. Viele Kirchenorganisten, die dann doch auf die Bühne wollen, wissen vielleicht nicht, was sie dort machen wollen. Die Bühne ist nicht immer freundlich. Manchmal macht es Klick, manchmal nicht.
Die Bühnenpräsenz, die Kommunikation mit dem Publikum, das mich inspiriert, die muss man im Herzen haben, man muss das wollen.» Apkalna gab sich nicht damit zufrieden, die Tage oder Nächte irgendwo unbeachtet auf der Empore einer dunklen Kirche zu verbringen, sondern sie suchte den Weg auf die Bühnen der leuchtenden Konzertsäle.
Dank der mobilen Spieltische ist das fast überall möglich geworden. Die Künstlerin wollte der Welt zeigen: Dieses Orgelspiel, das bin ich. Das ist nicht irgendein gottgegebener Klang einer unscheinbaren Person. Spielte sie in Kirchen, liess sie eine Grossleinwand in den Altarraum stellen, wo man sehen konnte, wie sie spielte.
Farbenpalette der Klänge erkunden
Redet sie über die Orgel, klingt es, als ob sie über einen Geliebten spricht: «Orgelspiel ist nicht nur Spiel, sondern wir müssen eine Orgel eröffnen. Das klingt leicht esoterisch, aber ich muss den Charakter der Orgel verstehen.» Das ist gar nicht so einfach.
Wenn Iveta Apkalna mit einem Orchester auf Tournee ist, das Konzert von Francis Poulenc mehrmals hintereinander in verschiedenen Städten spielt, trifft sie auf immer neue Instrumente: «Da – ich mache einen Vergleich – nehme ich sieben schwarz-weiss konturierte Mona-Lisa-Bilder mit. An jedem Ort male ich sie dann mithilfe der Orgel anders aus. Ich weiss, wie so ein Bild aussehen kann, aber welche Farbenpalette ich bekommen werde, weiss ich nicht. Ich reise nicht mit meinem Farbenset, sondern male mit jenem, das es dort gibt.»
Nach Mitternacht beginnt sie mit Proben
Die eigene Orgel mitzunehmen, kommt für sie im Unterschied zum weltberühmten Orgelpunk Cameron Carpenter also nicht infrage: «Es ist wirklich eine fantastische Möglichkeit, an diese teuren Instrumente heranzukommen. Wir sind zu einer Audienz mit einer Königin geladen. Hätte mich Queen Elizabeth zum Tee gebeten, hätte ich doch auch nicht meinen eigenen Teebeutel mitgenommen.
Ich muss diese Eigenheiten der Orgeln annehmen. Da gilt es, den schwierigen Weg zu nehmen.» Das braucht allerdings viel Zeit. Bereitet sie ein Rezital vor, braucht Apkalna bis neun Stunden Vorbereitung am Ort. In dieser ersten Phase geht es darum, die Klänge zu suchen für die Farbpalette. Das geschieht nicht am Tag, sondern in der Nacht: «In Hamburg in der Elbphilharmonie habe ich noch nie eine Probe vor Mitternacht bekommen.
Und die darf dann auch nur so lange dauern, bis die Putzkräfte kommen, also bis 4.30 Uhr, dann taucht eine Frau mit Staubsauger auf. Wir Organisten haben ein ungesundes Schichtleben.»
Internationale Orgeltage Zürich
An Pfingsten dreht sich in der Tonhalle Zürich alles um die neue Kuhn-Orgel. Neben zahlreichen Orgelkonzerten gibt es tagsüber unterschiedliche Veranstaltungen. Iveta Apkalna wird mit Orchester, an einem Kinderkonzert sowie mit dem lettischen Staatschor zu erleben sein.
Fr, 17.5.–Mo, 20.5. Tonhalle Zürich
www.tonhalle-orchester.ch