Ihr Alter? Jung. Ihr Beruf? Musiker. Besondere Merkmale? Hohe Begabung. Was nach der perfekten Ausgangslage für eine glänzende Karriere tönt, hat einen Haken: Junge Musiker müssen sich erst einmal vor Publikum bewähren. Dabei hilft ihnen das neue Konzertformat «Ouvertüre». Migros-Kulturprozent-Classics bietet herausragenden, jungen Schweizer Musikern neuerdings am Anfang jedes Konzerts zehn Minuten Zeit, ihr Können einem grossen Publikum zu zeigen.
An der Saisoneröffnung stand auf dem Programm Geigenstar Julia Fischer mit Brahms. Auf der Bühne war aber zunächst ein junger Cellist im bordeauxroten Anzug zu sehen: der Schweizer Christoph Croisé.
Eingängige Werke mit Ohrwurm-Potenzial
«Wenn es darum geht, in nur zehn Minuten eine Richtung zu zeigen, die für mich steht und meine Geschichte erzählt, muss man sich besonders viele Gedanken machen», sagt Croisé gegenüber dem kulturtipp. Vor dem Hauptprogramm mit Romantiker Brahms gibts darum erst einmal zwei Stücke mit Anklängen an Pop: Giovanni Sollimas «Alone» und Peter Pejtsiks «Stonehenge», bei denen sich die Finger des Cellisten als regelrechte Saiten-Akrobaten zeigen, während sich die Töne seiner schnellen Arpeggien zu Melodien mit Ohrwurm-Potenzial zusammensetzen. Es sind eingängige Werke. Und das nicht zufällig.
Ein Leben im ständigen Wettbewerb
«Liebe Zuhörerinnen, liebe Zuhörer, wir messen den Applaus, bitte klatschen Sie also besonders stark!» Mit diesen Worten hatte Intendant Mischa Damev die Zuschauer begrüsst – und die Stimmung im Saal auf Anhieb um ein paar Grad angehoben. Denn für einmal kam man sich vor wie bei einer Castingshow. Gilt bei Migros-Kulturprozent-Classics frei nach DSDS («Deutschland sucht den Superstar») nun plötzlich MSDS – die Migros sucht den Superstar? Nicht ganz. «Vielmehr sollen die jungen Solisten herausfinden, ob sie die Nerven für eine Solokarriere haben», erklärt Damev, «denn Musikersein bedeutet ein hartes Leben im ständigen Wettbewerb.»
Umso lustvoller darf das Publikum sich spielerisch daran beteiligen, wenn Karrieren gemacht – und wortwörtlich erklatscht werden. Der Musiker oder die Musikerin mit dem meisten Applaus erhält die Möglichkeit, bei Migros-Kulturprozent-Classics ganz regulär als Solist aufzutreten. «Seit 1989 habe ich die Idee mit mir herumgetragen, das Publikum mitentscheiden zu lassen – und verschiedene Vorstufen dazu ausprobiert», sagt Damev. So wurde auch das Messverfahren für den Applaus verfeinert. Dieser wird nun aufgezeichnet und nach Länge sowie Lautstärke ausgewertet. Gemessen wird dabei stets der Schlussapplaus, unabhängig davon, wie viele Stücke in den 10 Minuten gespielt werden.
Junge Solisten fördern sei das eine, so der Intendant. Daneben habe er noch ein weiteres Anliegen: «Junge Leute interessiert es wenig, wenn 80-jährige Altmeister ein Konzert geben.» Bei der Ouvertüre sei das anders, da träfe ein junges Publikum auf gleichaltrige Künstler.
Auch wenn von der Verjüngung bei der Saisoneröffnung noch nicht allzu viel zu spüren ist: Geklatscht wird grosszügig und ausgiebig. Auch für den Cellisten Christoph Croisé eine positive Erfahrung: «Das Publikum hatte eigentlich auf Julia Fischer und die Wiener Symphoniker gewartet, stattdessen trat zuerst ein junger Schnösel auf.» Der Empfang war trotzdem herzlich: «Ich war erstaunt über diese Begeisterung.»
Der Wunsch, ein goldenes Instrument zu spielen
Einen ebenso herzlichen Empfang erhofft sich die Saxofonistin Valentine Michaud (26). Die Musikerin aus Lausanne ist Solistin der nächsten «Ouvertüre». Bei Auftritten verbindet sie gerne Visuelles mit Musik, wie sie im Interview erklärt.
kulturtipp: Valentine Michaud, wie kommt man als kleines Mädchen auf die Idee, ein so grosses und schweres Instrument zu spielen?
Valentine Michaud: Aus einem lustigen Grund: Weil es golden war. Ich war ein kleines Mädchen und wollte auf einem goldenen Instrument spielen.
Das Saxofon wird in der Regel mit Pop oder Jazz in Verbindung gebracht, wollten Sie auch Popstar werden?
Ich hatte damals keine Ziele. Angefangen habe ich aber mit Klezmer, weil meine Lehrerin aus der Ukraine stammte. Danach habe ich Jazz und klassische Musik gemacht und bin so bei der Musik gelandet, die ich heute mache.
Welche Musik spielen Sie? Das Saxofon wurde erst 1840 erfunden, es gibt weder Mozart noch Beethoven für dieses Instrument.
Es ist tatsächlich eine Herausforderung, Zuhörer, Veranstalter und oft auch Dirigenten zu überzeugen, dass es interessante Musik für Saxofon gibt. Klar kann ich auch Transkriptionen klassischer Stücke spielen. Oft ist das Publikum dann erstaunt, was alles möglich ist auf dem Instrument. Am liebsten sind mir aber Werke für Saxofon. Die sind kaum bekannt, sodass die Leute etwas Neues entdecken können.
Ihre Konzerte haben oft aussergewöhnliche Formate. Sie arbeiten mit Tänzern oder Malern zusammen, verbinden Musik mit Visuellem.
Meine Eltern sind Grafiker. Dadurch habe ich eine Nähe zum Malerischen und Zeichnerischen. Und die Leute besuchen ein Konzert, weil sie einen sehen wollen. Also ist es wichtig, ihnen visuell etwas zu bieten.
Haben Sie bei der zehnminütigen «Ouvertüre» von Migros-Kulturprozent-Classics etwas Aussergewöhnliches vor?
Ich trete dort mit meinem Toni Sax Quartet auf, und wir haben tatsächlich eine Performance mit Choreografie erarbeitet. Es ist bloss noch nicht sicher, ob wir dafür genügend Platz haben, da ein ganzes Orchester auf der Bühne ist.
Der Schlussapplaus wird gemessen. Stress oder Spass für Sie?
Definitiv Spass. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie sie das genau messen wollen.
Viele junge Musiker müssen hauptsächlich reagieren – auf die Erwartungen des Publikums, die klassische Tradition oder den Markt. Sie dagegen scheinen eher zu agieren.
Das hat wohl mit meinem Instrument zu tun. Wenn man Geige spielt, wird einem ein Weg vorgegeben. Wenn man aber ein ungewöhnliches Instrument wie Saxofon oder Akkordeon spielt, gibt es eben keinen Pfad, dem man folgen kann. Also muss man von Anfang an selber Ideen haben, um den eigenen Weg zu finden.
Ouvertüre mit Valentine Michaud im Toni Sax Quartet
Im Anschluss: Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia; Antonio Pappano (Leitung), Martha Argerich und Francesco Piemontesi (Klavier)
Di, 5.11., 19.30 Casino Bern
Do, 7.11., 20.00 Victoria Hall Genf
Fr, 8.11., 19.30 Tonhalle Maag Zürich
Sa, 9.11., 19.30 KKL Luzern