Angekommen ist dieser Opernintendant noch nicht, aber in Fahrt ist er. Nicht in irgendeinem Regionalzug, sondern in einem Superschnellzug. Wurde in den letzten Jahren ein neuer Direktor für Opernmetropolen wie Wien oder München diskutiert, fiel immer auch der Name Aviel Cahn. Seine nächste Direktorenstelle werde an einem ganz grossen Haus sein, sagten alle. Nun ist es Genf geworden. Ein «ganz grosses Haus»? Mit ironischem Unterton bejaht Cahn die Frage – Genf sei doch mit seinen 1500 Plätzen grösser als Zürich mit 1100 Sitzen –, um dann ernst anzufügen: «Genf ist eigentlich hinter Paris das zweite Haus im französischsprechenden Raum.»
«So etwas gibt es in Zürich nie!»
Als Kind sah er im Fernsehen in einer Genfer TV-Übertragung Tenorlegende Luciano Pavarotti und jammerte: «So etwas gibt es in Zürich nie!» Genau diesen Satz will er ab Herbst wieder hören – und Zürich in den Schatten stellen.
Der 45-jährige Cahn hat die Flämische Oper seit 2009 auf den Radar der internationalen Opernauguren gespielt. Zum Start zeigte er Camille Saint-Saëns’ biblischen Stoff «Samson und Dalila» in der Regie eines jüdisch-palästinensischen Leitungsteams – die Diskussionen darüber wollten nicht enden. Als er 2013 «Rosenkavalier» ansetzte, überredete er den zweifachen Oscarpreisträger Christoph Waltz («Inglourious Basterds», «Django Unchained»), die Regie zu übernehmen. Noch in Helsinki, Cahn war erst 26, liess er Dario Fo inszenieren. Typisch Cahn: Lassen Basler Intendanten einen «Salzburger Stier»-Preisträger inszenieren, holt er gleich einen Nobelpreisträger.
Grosse Ziele eines engagierten Visionärs
Das Opernhaus Zürich taucht beim Gespräch mit Cahn alle zehn Minuten auf. Jeder Opernfreund glaubt zu wissen, dass Cahn nie ein anderes Ziel hatte, als Operndirektor in seiner Heimat zu werden. Andreas Homoki wird bis 2025 in Zürich sein. (K)ein Schelm, wer da denkt: ideal für Cahn!
Vorerst will Cahn in Genf für Wirbel sorgen. Ein guter Zeitpunkt, ist die Stadt doch in Aufbruchstimmung, man baut ein Schauspielhaus, einen Konzertsaal – und im Frühling 2019 war die 70 Millionen teure Renovation der Oper endlich abgeschlossen. Prächtig strahlt das Haus! Schon jetzt geniessen es die Genfer, wenn sie Cahn sagen hören: «Genf soll weltweit eine führende Opernstadt werden.»
Mittlerweile glaubt Cahn wohl selbst an seine Worte, dass es spannender sei, dort etwas zu machen, wo viel Potenzial liegt, als sich in Wien oder München auf einen Thron zu setzen und zuzusehen, wie sich das Haus sowieso füllt. Fragt sich nur, ob seine Pläne mit dem derzeitigen Genfer Budget möglich sind. Doch Geld scheint für Cahn kein Problem zu sein: «Man hat nie genug Geld. Aber in Antwerpen habe ich gezeigt: Mit wenig Mitteln kann man sehr viel erreichen.»
Eine grosse Kiste zur Eröffnung in Genf
In Antwerpen kam er mit 28 Millionen Euro Subventionen aus, in Genf hat er etwa 40 Millionen Franken. In Zürich sind es 80,5 Millionen. Doch der Vergleich hinkt, da in Antwerpen wie in Genf nicht Repertoire-, sondern Stagione-Betrieb herrscht. Man hat zwar Produktionsstätten, Orchester, Ballett und Chor, aber das Gesangsensemble ist viel kleiner. Eine Produktion wird geprobt, acht bis zehn Mal gespielt, danach folgt die nächste. Insgesamt spielt man viel weniger Opern. Oft wird zudem kostensparend mit anderen Stagione-Betrieben coproduziert. Aber aufgepasst: Das Hausorchester, das Orchestre de la Suisse Romande, ist auch noch ein Sinfonieorchester.
Zur Eröffnung spielt Cahn «Einstein on the Beach», 1976 von Minimal-Music-Ikone Philip Glass komponiert: Der Tessiner Theaterzauberer Daniele Finzi Pasca, der diesen Sommer das Live-Spektakel des Fête des Vignerons inszenierte, wird Regie führen. Ein Künstler für die Genfer Oper, der einst die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele arrangierte? Typisch Cahn. Im Oktober folgt dann mit Verdis «Aida» die nächste grosse Kiste.
«Tailermade productions» nennt der neue Intendant die Resultate: massgeschneiderte Opernproduktionen. Will heissen: Er kann mit einer Oper auf ein aktuelles Thema fokussieren, jedes Projekt soll ein «unique seller», ein einzigartiges Verkaufsversprechen, sein.
Produktionen, die alle bewegen
Die Uno, die Genfer Konvention (in «Aida»), das Rote Kreuz, die Exil-Russen die Bijouterie- und Uhrenindustrie sind Themen, die er auf die Bühne hieven will. Meistens ist ein roter Faden in seinen Spielplänen erkennbar – oder er redet ihn gekonnt herbei. «Wir müssen Geschichten erzählen, viel mehr als früher, das begeistert die Leute.»
Oft ist er unterwegs, um sein Wort an sein Publikum zu richten. «Bei Alexander Pereira konnte ich das lernen, er war Zürichs Hauptveranstalter. Das machte er wohl nicht aus einer sozialen Ader heraus, aber aus dem Bedürfnis, dass sein Opernhaus wichtig ist.» Wann sieht heute jemand einen Zürcher Theater- oder Operintendanten auf einem Podium oder in Cafés?
Neben der Vermittlung sind grosse Namen sehr wichtig. Stolz erzählt Cahn, wie die Tarantino-Waltz-Freunde den «Rosenkavalier» sahen, wie die «Monty Python»-Fans sich dank Regisseur Terry Gilliam mit Berlioz’ monumentaler Oper «Damnation de Faust» auseinandersetzten. Er hat das Durchschnittsalter seiner Besucher von 63 auf 49 Jahre gesenkt. Und wenn er, wie bisweilen geschehen, 30 Lehrerinnen und Lehrer in eine Generalprobe einlädt, schafft er ohne grossen Aufwand einen Multiplikationsfaktor.
Cahn strebt nach Beachtung in der Szene, gewiss, aber es ist ihm ein Anliegen, nicht für den Kreis der glücklichen wenigen zu spielen, er will Produktionen, die alle bewegen.
Opern
Einstein on the Beach
Bis Mi, 18.9.
Grand Théâtre de Genève
Aida
Fr, 11.10.–Di, 22.10.
Grand Théâtre de Genève
www.gtg.ch