Der Gast aus Zürich fragt sich nicht nur in der Konzertpause beim Luftschnuppern und Sternschnuppengucken mit Ausblick auf den mondumgarnten San Salvatore, warum in Lugano den Konzerten jeweils die Leichtigkeit des Seins innewohnt. Besser, als mediterrane Klischees zu strapazieren oder von ewiger Tessiner Ferienstimmung zu sprechen, ist der Grund im Konzertbeginn zu suchen: 20.30 Uhr. Das erlaubt nach Büroschluss ein Abendessen in der Pizzeria, ein Glas Merlot auf der Piazza oder gar den kurzen Gang nach Hause. Eccolo: Entspannt, frisch und fröhlich trifft alles zum Konzert ein. Doch genau bei diesem Glas Merlot auf der Piazza erfährt man von Christian Weidmann, während zwei schwierigen Covidjahren Intendant des Orchestra della Svizzera italiana (OSI), dass dieser späte Beginn vom Tessiner Radio auferlegt ist: Erst die Nachrichtensendungen, dann die Musik. Dem Publikum kanns recht sein – und dem Orchester auch. Die Übertragungen aller Abo-Konzerte machen das OSI im Kanton, ja in der Welt, alle paar Wochen so hörbar, wie es sich Deutschschweizer Orchester nur träumen können.
Ein begabtes Orchester und ein Klangsucher
Doch fürs Erste genug geredet, hinein in den Saal! Wagner, die 29-jährige Komponistin Mathilde Wantenaar, Debussy und Tschaikowsky stehen an. Das Orchester folgt seinem Chefdirigenten Markus Poschner mit Begeisterung und voller Energie, ist fähig, einen eigenen Klang zu produzieren und beschenkt sich, ihn und das Publikum mit einer famosen Interpretation. Und man denkt beim Schlussapplaus an die Worte des Dirigenten, der am Nachmittag beim Cappuccino sagte: «Die Begabung dieses Orchesters, sehr virtuos und sehr sanft zu spielen, ist enorm. Das ist ein kleiner Sportwagen, der sich sehr empfindlich und präzis bewegen kann.» Wen wunderts, sind in den letzten Jahren zahlreiche, überaus geglückte Aufnahmen entstanden. Seit 2015 arbeitet der Münchner Poschner im Tessin. Ein Glücksfall, denn er hat Ideen, ist ein Klangsucher. Und er hat eine grosse Zukunft: Als die Wagner- Festspiele in Bayreuth im Sommer 2022 einen Ersatz für einen an Covid erkrankten Dirigenten suchten, fragte man Poschner an. Wer den Wagner im Frühling gehört hatte, wusste, dass Bayreuth etwas erleben konnte. In Lugano ist das OSI zu Hause, im LAC hat es einen tollen Konzertsaal, wo es die eigene Qualität entwickelt. Und hier, so sollte man denken, müssten die St. Galler, Luzernerinnen und Basler hinströmen, auch die Münchner und Berlinerinnen, wenn sie ihre Ferientage mit einer musikalischen Note verschönern möchten. Doch so gerne die Deutschschweizer mittlerweile die Ausstellungen im LAC bestaunen, so zurückhaltend sind sie noch mit dem Besuch der Orchesterkonzerte. Dabei kann man das LAC durchaus ein kleines KKL nennen – und zwar nicht nur, weil dieses so lichtdurchflutete Kulturzentrum mit 210 Millionen fast genauso viel wie der Luzerner Nouvel-Bau kostete.
«Wir suchen den Wettbewerb»
Doch dieses LAC-Glück ist für das Orchester ein beschränktes: Gerade mal zehn Abende mit zehn Programmen sind dem OSI im Musentempel gewährt. So schwärmt man denn aus, fährt nach Chiasso, Locarno oder Bellinzona, obwohl dort auch mal eine alte Fabrikhalle als Spielort dienen muss. Doch die Reise soll viel weiter gehen. Ganz unbescheiden sagt Chefdirigent Poschner: «Wir müssen auch im europäischen Markt präsent sein. Wir sind Botschafter des Kantons Tessin, wir suchen den Wettbewerb.» Und als ob er die Zweifel spürt, sagt er: «Wir haben viel, was die anderen Orchester nicht haben. Hier besteht eine eigene Art, Musik zu denken.» Um seine Worte mit Fakten zu unterlegen, erzählt er von einem Konzert in Wien, wo man im Frühjahr 2022 Tschaikowskys «Pathétique» gespielt habe, obwohl am Abend danach und davor Dirigentenstar Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker genau dasselbe Werk aufgeführt hätten. Man merkt schon, dass diesem OSI zwar ein Magnolienduft anhaftet, spürt aber auch, dass es sehr flexibel sein muss, um zu überleben: Dieses Orchester ist angreifbar, dauernd will es jemand verkleinern. Umso wichtiger ist es, dass da so ein überlegener Chefdirigent zeigen kann, wie famos das Orchester ist. Mit dem Aufwärmen von Tessin- Klischees ist die Arbeit nicht getan. Optisch kommt das Orchester sowieso cool nordländisch daher. Mit dem estnischen Starfotografen Kaupo Kikkas ist es bis zum Gotthard hochgefahren, um dort einzigartige Orchesterbilder zu schaffen.
Auf den Suche nach der eigenen Wahrheit
Auch Chefdirigent Poschner ist der falsche, um Tessin-Klischees zu verkaufen. Er redet lieber vom europäischen als vom italienischen Orchester, erwähnt, dass die 41 festen Positionen aus 13 Nationalitäten bestehen würden. Im OSI sei zwar ein stark ausgeprägtes gesangliches, also italienisches Element vorhanden, aber da gäbe es auch die Präzision eines Schweizer Uhrwerks: «Wir sind auf der Suche nach eigenen Wahrheiten. Es gibt zu viele Klischees, zu viel Rezeptionsgeschichte. Wir Dirigenten sind kleine Ameisenforscher, müssen immer graben, sehen ein Rot und merken irgendwann wie die Restaurateure bei Michelangelos Gemälden, dass es ein strahlendes, kein mattes Rot ist.» Markus Poschner geniesst die Tage im Tessin – und das Orchester profitiert. Ein älterer Kritiker sagt in der Konzertpause: «Seit Poschner da ist, sind viele Konzerte überragend. Aber fast genauso wichtig: Das Niveau sinkt nie mehr unter ein gewisses Level, früher war das durchaus der Fall.» Nur etwas war gleich: Die Konzerte begannen um 20.30 Uhr. Zum Glück.
OSI-Konzerte
Mit Dirigent Michele Mariotti und Violinist Marc Bouchkov
Do, 29.9., 20.30 LAC Lugano
Mit Dirigent Markus Poschner und Pianist Benjamin Grosvenor
Do, 20.10., 20.30 LAC Lugano
CD
The Rossini Project
Vol. II The Young Rossini
(Concerto Classics 2020)