Sergey Khachatryan wurde 1985 in Eriwan geboren. Zwar kam er mit sieben Jahren nach Deutschland, aber seine Verbindungen zu seinem Heimatland Armenien waren immer sehr intensiv und bleiben es. In diesen Septembertagen, in denen Aserbaidschan die Armenier wohl für immer aus Berg-Karabach vertrieben hat, war er zufällig in Armenien. Geplant war eine Tournee mit dem Nationalen Philharmonischen Orchester.
Zwei von fünf Konzerten mussten abgesagt werden, das letzte haben die Musiker zum Benefizkonzert für die Vertriebenen verwandelt und am 28. September in Eriwan für einen äusserst emotionalen Abend gesorgt, wie die Reaktionen der Besucherinnen und Besucher zeigen. Es waren mit Sicherheit sehr bittere Tage. Darüber sprechen wollte Sergey Khachatryan so kurz nach den dramatischen Ereignissen nicht. Das ist nicht seine Art, er ist keiner jener Verkündigungskünstler, die weit über die Musik hinaus bereitwillig eine Meinung präsentieren.
Aber er hat sich auch nie gescheut, Stellung zu beziehen und für seine Herkunft einzustehen. Seine Familie pflegte auch in Deutschland das Armenische, und seine Facebook-Seite ist konsequent in Armenisch gehalten, jenem Alphabet mit 39 Buchstaben, das bereits im 5. Jahrhundert entstand und weder mit dem Kyrillischen noch dem Lateinischen verwandt ist, wie er gern betont.
«Die Geschichte darf man natürlich nicht vergessen»
Regelmässig tritt Khachatryan in Armenien auf, unterstützt lokale Künstler und hat auch keine Angst, sich politisch zu äussern: 2015 hat er zusammen mit seiner älteren Schwester Lusine unter dem Etikett «My Armenia» eine CD zum Gedenken an den 100 Jahre davor verübten Völkermord an den Armeniern eingespielt, mit Werken von Komitas, Khachaturian und weiteren armenischen Komponisten.
Zu Geschichte und zu den Kreisen türkischer Nationalisten, die diesen Genozid noch immer leugnen, sagte er damals: «Wissen Sie, dieses Leugnen hat nichts mit wirklichen Zweifeln zu tun, historisch ist ja alles belegt. Heute ist das Politik, und viele europäische Länder sind nicht daran interessiert, die Türkei zu brüskieren. Als Armenier darf man die Geschichte natürlich nicht vergessen, aber ich finde auch, wir sollten vielleicht etwas mehr in die Zukunft schauen.»
Seine Schwester Lusine ist Pianistin mit ebenfalls profilierter Klassikkarriere und bis heute seine bevorzugte – man könnte fast sagen: die einzige – Kammermusik-Partnerin. Nicht weil er sich nicht auf andere Musiker einlassen könnte. Aber mit ihr verbindet ihn so viel mehr: «Lusine ist einer der wenigen Menschen, denen ich komplett vertraue, das macht auch unser Duo für mich einzigartig. Abgesehen davon, dass sie eine tolle Musikerin mit viel Fantasie ist, die viel zu sagen hat.»
Diese Harmonie mit anderen Pianisten zu finden, wäre wohl möglich, aber Sergey befürchtet, dass die meisten nicht bereit wären, die nötige Zeit zu investieren.
Schon als Kind fiel ihm alles sehr leicht
Zeit für ein vertieftes Eindringen in die Musik, das ist für Sergey Khachatryan eine Grundvoraussetzung. Schon als junger Geiger überraschte er mit grosser Ernsthaftigkeit und reifen Einsichten, die ihn stark unterscheiden von himmelsstürmenden Jungtalenten, die sich mühelos in jede Herausforderung stürzen. Zwar fiel auch ihm als Kind alles sehr leicht.
Der Umzug nach Deutschland, die neue Sprache, die Schule: «Die Sprache war natürlich neu, aber der andere Schulstoff war für uns eher einfach, weil man in Armenien früher ein höheres Schulniveau hat.» Und auch das Geige-Spielen lernte er sehr rasch: «Ich habe mit sechs angefangen, mit neun das erste Solokonzert gespielt. Ich bin schnell vorangekommen, aber ich habe auch nicht so viel geübt. Wenn die Eltern nicht zu Hause waren, sogar überhaupt nicht.» Ein ziemlich normales Kind, wie es scheint.
«Ich verausgabe mich sehr bei einem Auftritt»
Auch mit Einspielungen hielt sich Sergey zurück, während seine Kollegen alle zwei Jahre mit neuen Aufnahmen auffallen: Bloss ein halbes Dutzend CDs sind von ihm greifbar, darunter die Konzerte von Sibelius und Schostakowitsch, zwei Alben mit Bachs Musik, Kammermusik von Brahms und Franck mit Lusine und eben «My Armenia».
Sergey spielt 40 Konzerte im Jahr, weniger als die Hälfte der meisten seiner Solistenkollegen. Nicht weil es nicht mehr Anfragen gäbe, sondern weil er authentisch bleiben will: «Ich kann von Glück reden, dass ich mir diesen Luxus leisten kann. Die Karrieremaschine verlangt von dir, dass du überall präsent bist, damit du oben bleibst. Bis jetzt konnte ich mich dem entziehen, ohne darauf verzichten zu müssen, mit den besten Orchestern und Dirigenten zu spielen.
Mein Lehrer riet mir, jedes Konzert so zu spielen, als ob es mein letztes wäre. Ich verausgabe mich sehr bei einem Auftritt, und ich brauche Zeit, um mich emotional wieder zu füllen.» Ein Konzert aber durfte nicht fehlen in der Diskografie von Sergey Khachatryan: dasjenige von Sibelius, das am wenigsten populäre unter den fünf grossen romantischen Violinkonzerten neben Brahms, Beethoven, Bruch und Tschaikowsky.
Für den damals 15-Jährigen war es das Lieblingskonzert, und deswegen machte er beim wichtigen Sibelius-Wettbewerb in Helsinki mit – und gewann. Natürlich wollte ihn die Klassikwelt danach vor allem mit diesem Werk hören, was sich bis heute nicht geändert hat. Auch in der Reihe Société de Musique in La Chauxde-Fonds wird er Sibelius spielen – zusammen mit dem Ensemble Symphonique Neuchâtel unter der Leitung von Victorien Vanoosten.
Faszination für Sibelius’ Melancholie
Und auch die Liebe des Geigers zum finnischen Konzert ist geblieben: «Ich habe es noch viel besser verstanden, nachdem ich in Finnland war, finnische Literatur gelesen, die Landschaften mit den vielen Seen gesehen habe. Die Melancholie in diesem Werk hat mich schon immer fasziniert, und nachdem ich die Atmosphäre erlebt habe, sind gewisse Bilder stark geworden. Es ist ein sehr dramatisches Konzert, und wir Armenier lieben das Drama.»
Konzerte
Sergey Khachatryan spielt Sibelius
Fr, 27.10, 19.30 Salle de Musique
La Chaux-de-Fonds NE
Album
My Armenia
Mit Lusine Khachatryan
(Naïve 2015)
Klingende Namen in La Chaux-de-Fonds
Nach der Saisoneröffnung mit La Cetra und der h-MollMesse von Bach (22.10.) und dem Sibelius-Programm mit Sergey Khachatryan geht es bei der ehrwürdigen Société de Musique in La Chaux-deFonds in der 131. Saison mit dem Pianisten-Jungstar Alexander Malofejew weiter, der sich an Rachmaninows 3. Klavierkonzert wagt. Klingende Namen folgen: Kian Soltani mit dem Cellokonzert von Schumann, Bertrand Chamayou mit Liszts dämonischer «Malédiction», Renaud Capuçon und Kit Armstrong mit Mozart.
Marina Viotti singt Rossini, Roman Guyot spielt Mozarts Klarinettenkonzert, und am 5. Mai schliesst das ChiaroscuroQuartett die Saison mit Beethoven und Schubert.
Société de Musique La Chaux-de-Fonds
www.musiquecdf.ch