Sass die Jahrhundertsopranistin Maria Callas 1958 mit ihrem Pudel im Mailänder Restaurant Biffi, konnte sie sicher sein, dass sie fotografiert und ihr Bild am nächsten Tag in der Zeitung erscheinen würde. Spaziert hingegen heute Operndiva Anna Netrebko durch Mailand, interessiert das morgen keinen.
Um beachtet zu werden, müssen Künstlerinnen und Künstler heutzutage das Heft selber in die Hand nehmen – ob Opernsängerin, Schauspieler oder Autorin. Instagram, Twitter oder Facebook sind für sie wie für Millionen andere prominente Menschen eine ideale Plattform geworden, um Aufmerksamkeit zu generieren. Regisseur Milo Rau, der alles Böse auf der Welt anklagt, nutzt sie genauso wie Roger Köppel oder Donald Trump. Schriftstellerin Sibylle Berg und Pianist Igor Levit werben für sich – pardon, twittern – den lieben langen Tag und machen sich bei ihrer Fangemeinde dadurch omnipräsent.
Die eigenen Vorteile präsentieren
Besonders aktiv zeigen sich die Klassikstars: Sie inszenieren sich auf Facebook und Instagram geradezu mit Lust, zeigen Privates und viel Haut. Die 42-jährige lettische Sopranistin Kristine Opolais etwa präsentiert sich gern in neuster Bademode. Bald lässt sie ihre Fangemeinde via Kamera durch ihr Hotelzimmer spazieren, bald zeigt sie ihr ein Tänzchen oder schickt einen Kussmund aus dem Bett in die Welt. «Die hat es wohl nötig!», mögen Neider einwenden. Hat sie im Prinzip nicht: Opolais ist eine der zehn berühmtesten Sopranistinnen unserer Tage. Sie singt in Wien, München und New York. Mit einem kleinen Nachteil: Sie steht nicht auf derselben Stufe wie Anna Netrebko. Also gilt es, auf den Werbeplattformen die eigenen Vorteile hervorzuheben, vor allem in Zeiten, in denen das Aussehen fast genauso wichtig ist wie die Stimme.
Apropos Anna Netrebko: Die Starsopranistin hätte, so würde man denken, den Instagram- und Facebook-Zauber tatsächlich nicht nötig. Aber erstens steckt auch hinter Ruhm viel Arbeit, zweitens ist er vergänglich, und drittens: Vielleicht macht es ihr ganz einfach Spass, auf Instagram werbewirksam rumzualbern. Die Russin ist dauerpräsent, zeigt sich beim Girlsabend, beim Schwimmen, beim Einkaufen und macht auf Facebook auch auf den Tod ihres Vaters aufmerksam. Die Fan-Bindung ist genau wie bei Pianist Igor Levit auf die Spitze getrieben.
Die Männer stehen den Frauen in nichts nach
Vor 50 Jahren übernahm die «Schweizer Illustrierte» in seitenlangen Bildporträts diese Art der Werbung. Heute aber zählt ein Klassikstar in solchen Magazinen nichts mehr. Die Pianistin Yuja Wang fiel bei ihrem ersten Auftreten auf europäischen Bühnen durch ihre kurzen Röcke und hohen Absätze auf. Mittlerweile hat sie sich kleidertechnisch radikalisiert. Auf Instagram feiert sie ihren Stil – und zeigt auch mal einen Handstand im Hotelzimmer. Kollegin Khatia Buniatishvili steht ihr in nichts nach.
Wer denkt, dass die Männer damit nichts zu tun haben, sollte sich die Bilder des höchst er-folgreichen Schweizer Dirigenten Lorenzo Viotti (*1990) anschauen: Er ist soeben Chef in Amsterdam geworden, dirigiert auch in Zürich und an der Mailänder Scala. Vor einigen Jahren sagte er im Interview noch: «Das Podium ist die einzige Position, in der ich mich wirklich zu Hause fühle.» Die Badewanne scheint es auch zu sein, wie er uns nun beweist.
Der Lockdown zwang manch einen Künstler zu Originalität. Paavo Järvi, Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich, nahm eine lange Quarantäne auf sich, um in Japan ein paar Konzerte geben zu können. Dabei schien es ihm im engen Hotelzimmer langweilig geworden zu sein. Wir waren dabei, wie er ass und trank – Sushi auch mal mit nacktem Oberkörper.
Den nackten Oberkörper zeigt auch Andreas Ottensamer (*1989) gerne: Erst sehen wir den Klarinettisten beim Training im Kraftraum, dann präsentiert er ihn unter einem Regenbogen. Ottensamer kann künstlerisch momentan nicht viel mehr erreichen: Er ist Solo-Klarinettist bei den Berliner Philharmonikern und hat dort grosse Freiheiten, steht dem hiesigen Bürgenstock-Festival vor, tritt oft als Solist bei Orchestern auf und ist auf zahlreichen Alben vertreten.
Werbefotos fallen nicht mehr ins Gewicht
Aber die CD ist nicht mehr so präsent wie einst: Die Läden fehlen, die einst überpräsenten Schallplattenplakate werden nicht mehr gedruckt. Früher konnte damit geworben werden, überall gab es Inserate mit den Bildern. Operndiva Renata Tebaldi (1922–2014) zeigte in den 1960ern ihre Oberweite nicht etwa in irgendeinem Bild in der Presse, sondern durchaus auf LP-Covers. Wohlwissend, dass ihre Rivalin Maria Callas damit nach ihrer Hungerkur nicht punkten konnte.
Die Musiker und Musikerinnen konnten auf die Medien und die Plattenfirmen zählen. Heute fallen Covers und Werbefotos nicht mehr ins Gewicht. Also muss der Künstler aktiv werden und Social Media benutzen, um Aufmerksamkeit zu generieren. Jeder hat es in der Hand, für sich zu werben. Wer nicht berühmt ist, wagt es selten, auffällige Fotos von sich zu posten. Die einen zeigen sich beim Üben, die anderen am Strand.
Die aufreizenden Fotos haben nur dem Anschein nach etwas gemein mit jenen, die in den 2000er-Jahren von weiblichen und männlichen Klassikstars gemacht wurden. Damals inszenierten die Plattenfirmen ihre Jungstars sehr freizügig. Damals war viel Druck mit dabei, heute macht jeder das, was er für richtig hält.