Die Musikerinnen und Musiker tragen klingende Namen, heissen Natalia Auli, Marianna Bednarska oder Anna Agafia Egholm. Und doch sind sie alle No-Names im Vergleich zu den Stars, mit denen in Gstaad, Verbier oder Klosters jongliert wird. Das stört beim Davos Festival niemanden, schon bei der Gründung vor 36 Jahren hatte man sich «Young Artists» auf die Fahne geschrieben. Die Losung ist einfach: Je weniger bekannt die Musiker, desto spezieller wird das Konzertprogramm. Wer in Davos ein Konzert bucht, lässt sich überraschen. Chapeau, wenn der Gast bisweilen zwei von vier Komponisten auf dem Programmzettel schon mal gehört hat. Obwohl beim Eröffnungsabend für gewöhnlich 80 Prozent der Besucher vom Sponsor eingeladen sind, spielt man am 6. August neben einer Beethoven-Sonate Werke von Michael Jarrell (*1958) und Johanna Doderer (*1969), am zweiten Abend unter anderem ältere Werke von Rebecca Clarke, Augusta Holmès und Mel Bonis.
Amherd setzt die Musiker wie Instrumente ein
Über 80 junge Musikerinnen und Musiker spielen in Davos, ein paar davon bilden fixe Ensembles. Der künstlerische Leiter Marco Amherd kann diese Musiker aber wie sein eigenes Instrument verwenden: Bald formiert er sie zu einem Ensemble, bald zu einem Solostück, mal zum Duo, mal zu einem Orchesterwerk. Erst dank dieses famosen Reservoirs ist es ihm möglich, unglaublich bunte, verspielte, ja verrückte Programme zu entwerfen. Amherd ist fast selbst noch ein Young Artist, erst seit Herbst 2019 Intendant in Davos. Als Dozent unterrichtet er aber an der Zürcher Hochschule der Künste und als Gastdozent in Luzern. Nebst seiner Konzerttätigkeit als Organist dirigiert er mehrere professionelle und semi-professionelle Ensembles. «Brüder und Schwestern», «Zu neuen Ufern» oder «Glitter And Be Gay!» nannte er 2021 die Konzertthemen beim Festival- Motto «Aequalis»: In Luzern hätten sie ob so viel explizitem Inhalt rote Ohren gekriegt. Davos wollte musikalisch aber aufzeigen, wie weit es noch ist bis zur Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Amherd programmiert das alles mit einem Augenzwinkern – und nimmt das Thema Diversität doch so ernst wie kein anderer Festivalleiter. Aber Achtung: 2022 schreibt sich das Lucerne Festival das Thema «Diversity» auf die Fahne! Marco Amherd lächelt, freut sich darüber und sagt: «Am wichtigsten scheint mir, dass Gleichberechtigung und Diversität nicht nur einmalig gefeiert werden und danach wieder zur altbekannten Tagesordnung übergegangen wird, sondern dass auch bei den Folgejahren auf ein ausgewogenes Verhältnis bei der Besetzung der Künstlerinnen und der Komponisten geachtet wird, auch wenn dies gerade nicht ‹en vogue› ist.»
Der Musik neue Perspektiven eröffnen
Nur wenn viele Veranstalter am gleichen Strick zögen, könne etwas erreicht werden, so Amherd. «Ich bin davon überzeugt, dass diese Diskussionen nicht wegen des Zeitgeists wichtig sind, sondern der Musik nachhaltig neue Perspektiven eröffnen.» «Flunkern» heisst das Thema diesen Sommer, und damit fragt Amherd: Was ist überhaupt Wahrheit? «Wer definiert, was richtig und was falsch ist? Und ist es bereits Selbstbetrug oder eher Selbstschutz, wenn man sich in einer Scheinwelt oder einer Bubble bewegt?» Die Musik spiele stets mit unserer Imaginationskraft, sie entführe uns in Traumwelten, täusche uns aber auch manchmal etwas vor, sagt Amherd. «Sie kann unsere wahren Emotionen zum Vorschein bringen, aber auch ein falsches Zusammengehörigkeitsgefühl provozieren.» Für ihn ist Musik nie nur «L’art pour l’art», sondern immer durch eine Biografie, eine zu erzählende Geschichte oder den Zeitgeist geprägt. Sie sei die Sprache des Komponisten und der Komponistin.
Von Märchen bis Fake News
Er will in den Programmen den verschiedenen Ausprägungen des Flunkerns nachgehen. Bei den Märchen wird es spielerisch, bei den Fake News, dem Klimawandel und den Pseudonymen nachdenklicher und kritischer. «Mir ist es wichtig, dass die Konzerte stets im Dienst der Musik und der jungen Künstler stehen, dabei aber den gesellschaftlichen Diskurs nicht ausblenden und mehrere Ebenen miteinander verbinden.» «I did not have sexual relations with that woman», liest man schon in Landquart auf einem Plakat aus stechendem Gelb und hellem Rot. Obacht, da geht etwas! Und das Besondere: Man fährt auf die Schatzalp, sitzt in Kirchen, Hotel- und Kongresshaussälen und nicht zuletzt im Kirchner Museum. Das macht dieses Festival unverwechselbar.
Das Unkonventionelle hat in Davos Tradition
Bisweilen fragt man sich, was denn da der Stiftungsrat denkt, doch Amherd winkt ab: «Ich schätze es sehr, dass mir unser Stiftungsrat bei den künstlerischen Entscheidungen freie Hand lässt und Raum für Experimente schafft. Dafür ist ein grosses gegenseitiges Vertrauen nötig. Das Davos Festival steht seit vielen Jahren für unkonventionelle Konzepte. Diese Tradition möchte ich weiterführen.» Aber er weiss auch, dass die Verbindung zwischen konzeptuellen Programmen, höchster künstlerischer Qualität und einer Portion Selbstironie stets eine Gratwanderung ist, und sagt: «Ich möchte gesellschaftliche Themen ansprechen, ohne ins Politische abzudriften. Ich möchte wunderbare Musik ins Zentrum stellen, ohne im Pool des bereits überall Gehörten zu landen. Und wer mich kennt, weiss, dass es in meinen Konzerten auch immer wieder Platz für Humor gibt.»
Davos Festival
Sa, 6.8.–Sa, 20.8.
www.davosfestival.ch