Unglaublich, wie erlösend ein kräftiges «Buh» nach einer ärgerlichen Leistung eines Sängers, eines Dirigenten oder Regisseurs sein kann. Selbst die Wut auf den Intendanten lässt sich damit lindern. Doch Achtung: Kaum ist das Unwort gerufen, wird man freudige Zustimmung oder heftige Kritik der Platznachbarn ernten. Nun beginnt die Diskussion erst richtig. Jetzt gilt es der Kunst! Gibt es etwas Schöneres, als wenn sie die Gemüter heftig bewegt?
Nur Streicheleinheiten für die Künstler?
«Einspruch!», rufen die Korrekten auf dieses Argument hin, dazu gehören (fast) alle Künstler und mit der Oper beruflich verbundenen Menschen. «Buhs» brauche es gar nicht, man könne ja einfach nicht klatschen. Dirigent Daniel Barenboim findet es primitiv, der ehemalige Bariton Thomas Quasthoff gar zum Kotzen, Dirigent Christoph Eschenbach vulgär, und Ex-Bundesrat Moritz Leuenberger sagt: «Es ist etwas für die Feigen.»
Doch sind den Künstlern einzig Streicheleinheiten zuzumuten? Ausserhalb der Konzertsäle werden wir dazu erzogen, deutlich zu sagen, was wir denken. Und wir sollen auch einmal gegen den Strom schwimmen. Im Opernhaus und im Konzertsaal aber müssen wir den Mund halten? Die anderen jubeln lassen, wo wir doch denken, dass der Tenor nicht alles gegeben hat, zudem schlecht vorbereitet nach Zürich kam und dennoch fast 20 000 Franken Abendgage kassierte? Dirigent Daniel Barenboim bejaht diese Frage und sagte in einem Interview mit der DPA: «Wenn Sie in ein sehr gutes Restaurant gehen und das Essen gefällt Ihnen nicht, gehen Sie dann in die Küche und schreien den Koch an? Nein!»
Barenboim überlistet sich mit dem folgenden Argument: «Sie geben vielleicht ein bisschen weniger Trinkgeld als sonst und gehen vielleicht nie wieder in dieses Restaurant.» Genau das macht der buhende Opernfan eben nicht: Er kehrt immer wieder dorthin zurück – und zahlt ein Vermögen für die Karten. Sein «Buh» zeigt geradezu seine Liebe zu seinem Opernhaus: Es bedeutet, dass er dort zu Hause ist, mitsprechen darf und mitsprechen will. Aus einem «Buh» spricht weniger der Hass als vielmehr enttäuschte Liebe.
Kritischer Stehplatz gegen satt-zufriedenes Parkett
«Buh» ist die einfachste, verständlichste und traditionellste Art, zu sagen: «Mir gefällt es nicht.» Zugegeben: «Buh» ist kein komplexer Laut. Einst wurde im Theater auch das Pfeifen gut verstanden, aber seit der Pfiff in der Pop-Kultur zur Beifallsbekundung gebraucht wird, ist es selbst in italienischen Opernhäusern nicht mehr klar, ob damit Jubel oder Protest gemeint ist. Bedauerlich, denn der Pfiff wäre eine Kritikäusserung auch für stimmlich schwächere Opernfreunde, denen ein kräftiges «Buh» Probleme bereitet.
Man darf auch daran erinnern, dass wir über den Klassikzirkus und nicht über Wohltätigkeitsveranstaltungen reden. Wir sprechen von hochsubventionierten Betrieben, wo die Spitzenkräfte absahnen und vom Steuerzahler zu Millionären gemacht werden. Und nebenbei: Niemand buht in Biel – man buht in München, Mailand oder Berlin. Wenn enttäuschte Fussballfans ihre Idole mit «Scheiss-Millionäre»-Rufen eindecken, sind wir im selben Gefühlsstrudel. In Mailand kann ein Opernabend bisweilen auch in Arm gegen Reich ausarten: kritischer Stehplatz gegen satt-zufriedenes Parkett.
Wer eine Karte kauft, soll urteilen dürfen
Auch während der Vorstellungen kommt es bisweilen aber zu erbosten Zwischenrufen. Als im Sommer 2016 ein einzelner Liederfreund am Festival «Schubertiade» im österreichischen Schwarzenberg den Gesang des britischen Tenors Ian Bostridge mit «Deutsch lernen!» quittierte, schrie das deutsche Feuilleton empört auf. In Mailand oder in Parma sind solcherlei Zwischenrufe normal – auch im positiven Sinn, genauso können sie einen Begeisterungsorkan auslösen. Eine geistreiche Bemerkung kann auch Geschichte schreiben. Der Satz «Heute Abend weint Verdi» – mit sonorer Bassstimme an der Mailänder Scala 1992 in die Stille in «Don Carlo» gesprochen – löste einen Tumult aus, in dessen Folge die Polizei auf den Stehplätzen aufmarschierte.
Wer buht, gehört nicht an den Pranger. Jeder, der eine Karte kauft, soll über das Gebotene urteilen dürfen. Das setzt nicht voraus, dass er selber schöner singen kann. Er behauptet das auch nicht. Aber er geht mit Sicherheit einem eigenen Beruf nach, in dem er ebenso nach Leistung beurteilt wird. Gesangs-, Dirigier- oder Regiekunst ist zudem durchaus subjektiv bewertbar. Schön oder nicht schön, was heisst das schon? Auch wegen Maria Callas schlug man sich in den Opernhäusern die Köpfe ein. Als Jahrhunderttenor Luciano Pavarotti am 7. Dezember 1992 an der erwähnten tumultartigen Saisoneröffnung in Mailand ebenfalls heftig ausgebuht worden war, fragte er hinter der Bühne seine Töchter: «Wie war es wirklich?» Die sagten ihm: «Schlecht.» Worauf er antwortete: «Nun denn, so waren die ‹Buhs› gerechtfertigt.»
Die zum Event getrimmte Klassikszene wird bald kritikfrei leben. Wer viel für eine Eintrittskarte bezahlt hat, will Weltklasse hören – dieser Wunsch kann auch zu Selbsttäuschung verleiten. Am Lucerne Festival gibt es mittlerweile nach konkurrenzlos teuren Sinfoniekonzerten fast jedes Mal eine Standing Ovation. Aber warum buht dort nie mal jemand den Dirigenten Valery Gergiev oder den Pianisten Maurizio Pollini aus? Gründe dafür gäbe es viele. Versuchen Sie es diesen Winter mal in Ihrem Stammhaus in Zürich oder Basel – im Konzert und in der Oper! Sie werden heftige Reaktionen und geistreiche Diskussionen auslösen.