Das Neujahrskonzert durchdringt via Radio und TV seit Jahrzehnten die Welt. Der Pausenfilm und die Ballett-Einlagen machen uns träumen, Sissi tanze jeweils für zwei Stunden um die biedersten Sofas der Welt. Aber vielleicht ist das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker nur ein Traum?
Einzigartiges Erlebnis für alle
Drinnen im Saal meint jeder zu wissen, was passiert, und doch sind alle nervöser als beim ersten Rendez-vous. Die Lust, einmal im Leben beim Radetzky-marsch mitzuklatschen, scheint auch bei sich wie Statuen bewegenden Japanerinnen im Kimono ein Lebenstraum zu sein. «Spottet doch draussen darüber, hier drinnen im Saal werden wir damit zur Gemeinschaft», denkt sich unsereins und schlägt die Hände freudig zusammen.
Wenn die ersten Walzer vorbeigerauscht sind, wird aus dem vermeintlichen Event ein einzigartiges Konzert: Der Klang der Philharmoniker ist so eigen, so melancholisch gelangweilt-märchenschön, dass der Wien-Pilger davon trunken wird. Manch einer reisst zum Schluss aus dem Blumenschmuck eine blütenduftende Erinnerung heraus, will am nächsten Tag zu Hause wissen, dass er nicht geträumt hat, sondern im Saal war.
Die Ticketbörse Viagogo bot am 15. November 2019 noch 20 Karten an – eine im Parkett kostete hier statt offiziell 1090 Euro rund 10 209 Schweizer Franken, ein Stehplatz 971 Franken (offiziell 35 Euro). Am 4. Dezember war man beim Stehplatz 260 Franken billiger geworden. Bei Ticketpool wurden die Preise mit 750 bis 6500 Euro angegeben. Für denselben Preis erhält man bei gewissen Hotels sogar zwei Übernachtungen dazu.
Heiss begehrte Eintrittskarten
Nicht nur die Preise sind erstaunlich, mehr noch, dass es diese Karten überhaupt im Angebot gibt. Offiziell werden sie nämlich von den Wiener Philharmonikern im Februar verlost. «Somit haben Musikfreunde aus aller Welt die gleichen Chancen, diese heiss begehrten Karten zu erwerben», heisst es auf der Homepage. Allerdings kommt nur die Hälfte der 1744 Karten in den Topf. Klar – und den Philharmonikern äusserst peinlich – ist die Tatsache, dass die Online-Angebote aus dem Kontingent für die Sponsoren, den ORF, die Bundesregierung oder die eigenen Musiker kommen. «Wir können nicht gegen diese Anbieter vorgehen. Wir distanzieren uns davon», so die Philharmoniker.
Geld hin oder her: Die Melancholie, die aus diesen Tönen aufsteigt, ist es, die das Neujahrskonzert eben nicht zu einem knallbunten Fest macht, sondern zu einem Hochamt der Leichtigkeit. Hier erwacht das Unterbewusstsein eines jeden. Und wo, wenn nicht in Wien soll das geschehen, wo Traumnovellen geschrieben wurden?
Mit 100 000 verkauften Alben auf Platz eins
Aber mit Träumen wurde schon immer Geld gemacht – und auch darum geht es den Philharmonikern, einem zwar subventionierten, aber eben doch privaten Verein. TV Pakistan und Vietnam sind seit 2016 mit dabei, in 92 Länder wird das Neujahrskonzert übertragen, 50 Millionen Menschen schauen im Fernsehen zu. Die Sony-CD liegt schon eine Woche später in den Läden. 2018 war das Neujahrskonzert in Österreich einmal mehr die Nummer eins der Pop-Charts. Auch in der Schweiz erreicht es jeweils Spitzenplatzierungen. Und zum ersten Mal hat die Aufnahme Platz eins der deutschen Klassik-Jahrescharts belegt. Insgesamt wurden 100 000 Alben verkauft. Streams in Millionenhöhe kommen hinzu, vor allem in Asien.
Auch diese Ausschlachtung wissen die Philharmoniker in grosse Worte zu kleiden: Es sei eine einzigartige Chance, die Welt in einen Konzertsaal zu verwandeln, sagte der Geiger und Philharmoniker-Vorstand Daniel Froschauer. «In einem Konzertsaal ist jeder gleich.» Daher habe man jährlich die Möglichkeit, den Gedanken von Demokratie, Frieden und Liebe in die Welt zu transportieren.
Ob Boulevard-, Gratis- oder seriöse Zeitung: Das Konzert ist in der österreichischen Presse omnipräsent. «Kurier»-Journalist Gert Korentschnig sagt: «Nie erhalte ich mehr Reaktionen. Das Konzert ist einzigartig und jedes Mal völlig anders.» Unglaubliche und aus Schweizer Kritikersicht beneidenswerte 600 Kommentare werden es in der österreichischen Tageszeitung «Der Standard» bald sein.
Wo liegt das Geheimnis des Trubels?
Wie konnte ein klassisches Konzert mit einem alljährlich ähnlichen Programm es schaffen, diesen Status zu erreichen? Warum ist gerade dieses Konzert hundertfach überbucht? Ist es jener mythosschwangere Walzer-Rhythmus, der das Neujahrskonzert so legendär gemacht hat? Haben alleine die Wiener Philharmoniker diesen Walzer-Code geknackt? Liegt in einer rhythmischen Verzögerung auf dem zweiten Schlag, die vielleicht bloss gedacht, also ein Hirngespinst ist, das Geheimnis des Neujahrskonzert-Trubels?
Die Antwort kommt aus Goethes «Faust»
Aber wovon man nicht sprechen kann, das wissen die Wiener schon lange, darüber muss man schweigen. Und so beendet denn Christian Thielemann, Dirigent des Neujahrskonzert 2019, die Diskussion, welcher Schlag im Walzer denn nun wie oder wann zu betonen sei, mit einem Zitat aus Goethes «Faust»: «Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen / Wenn es nicht aus der Seele dringt, / Und mit urkräftigem Behagen / Die Herzen aller Hörer zwingt.»
Andris Nelsons – 2020 am Dirigentenpult
Am 1. Januar steht Andris Nelsons erstmals beim Neujahrskonzert am Pult der Wiener Philharmoniker. Der lettische Dirigent ehrt unter anderen Ludwig van Beethoven zu dessen Jubiläumsjahr, wobei insgesamt neun Stücke Neujahrskonzert-Premiere feiern.
Wiener Neujahrskonzert 2020
Radio
Mi, 1.1., 11.15 Radio SRF 2 Kultur
TV
Mi, 1.1., 11.15 ORF 1 / SRF 1 u.a.
CD
Neujahrskonzert 2020, Andris Nelsons, Wiener Philharmoniker
(Sony 2020)
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