Ihr Vater war Sänger im St. Petersburger Mariinsky-Theater, die kleine Olga wuchs quasi in diesen Kulissen auf: «Das Licht, der Geruch, diese ramponierten alten Kulissen – eine Zauberwelt für mich.» Die Faszination blieb: «Theater ist eine Sucht – und es gibt kein Gegengift.» Die Mutter war weniger überzeugt und schickte sie in die Mathematik-Stunde und ins Karate, wo sie es bis zum roten Gürtel schaffte. Aber auch in Musik und Ballett erhielt Olga Unterricht, und mit 15 entschied sie sich endgültig für die Musik. Für die Oper war das etwas früh. So hat sie Chorleitung und Klavier studiert. Das mochte sie: Gehörbildung, Blattlesen, Musiktheorie. Eine gute Basis für das Gesangsstudium, das sie erst mit 22 in Berlin ernsthaft in Angriff nahm. «Diese Basis ist mein Joker. Sie erlaubt mir, viel schneller als meine Kollegen meine Partien zu lernen und zu verstehen.»
Eine Stimme jenseits der Klischees
Von russischen Sopranen erwartet man klischeemässig Wucht und Kraft und viel Vibrato. Olga Peretyatkos Stimme aber ist das totale Gegenteil: schlank, unglaublich beweglich und auch in den höchsten Höhen von einer cremigen Weichheit. Logisch, dass sie in den quirligen Sopranpartien von Rossini, als Gilda in Verdis «Rigoletto» oder mit Mozarts «Königin der Nacht» erste Erfolge feierte. Vollends in den Opernhimmel aber katapultierte sie Strawinskys «Nachtigall», eine akrobatische Koloraturen-Zwitscherpartie. Damit brillierte sie 2010 beim Festival in Aix-en-Provence und wurde endgültig zum Star. Paris, Wien, die Mailänder Scala und die Salzburger Festspiele luden sie ein – und 2014 auch die New Yorker Met. Und das nicht etwa für eine Nebenrolle, sondern für die zentrale Sopranpartie in Bellinis letzter Oper «I Puritani» in der Wiederaufnahme jener le-
gendären Produktion, in der Joan Sutherland, Luciano Pavarotti und Sherrill Milnes 40 Jahre früher für Opernsternstunden gesorgt hatten.
Auch Wiegenlieder können dramatisch sein
Die Schweizer Klassik-Szene kennt die russische Sopranistin schon gut: Bereits 2011 sang sie in der Arena von Avenches die Gilda in Verdis «Rigoletto», die Opéra de Lausanne gab der jungen Sopranistin die Hauptrollen in Händels «Alcina», Donizettis «Liebestrank» und Verdis «Traviata» – ein Meilenstein jeder Sopran-Karriere. Peretyatko sang im Opernhaus Zürich. Und mit dem Sinfonieorchester Basel und seinem Chefdirigenten Ivor Bolton verbindet sie eine enge Zusammenarbeit, die auch zu zwei CDs führte: «The Secret Fauré» mit reizvollen Orchesterliedern dieses französischen Spätromantikers und «Mozart +» mit den schönsten Arien von Mozart und seinen Zeitgenossen.
In Luzern steht nun aber nicht die Oper im Zentrum, sondern das Lied, das ihr ebenso am Herzen liegt. Aus lauter Schlaf- und Wiegenliedern hat sie ihr Programm zusammengestellt. Will sie ihr Publikum möglichst rasch in den Schlaf singen? «Im Gegenteil», lacht sie. «Wir haben sehr unterschiedliche Lieder ausgesucht. Und ein Wiegenlied kann auch höchst dramatisch sein, wie etwa das Finale von Tschaikowskys Oper «Mazeppa» zeigt: ein inniger Abschied einer dem Wahnsinn verfallenen jungen Frau von ihrem sterbenden Geliebten.»
Aber der Hauptgrund für das Interesse der 40-jährigen Sängerin am Wiegenlied ist viel naheliegender: Am 27. Januar – Mozarts Geburtstag! – kam ihre Tochter Maya zur Welt. Die freie Zeit im Corona-Jahr nutzte sie, um nach Liedern für ihr ungeborenes Kind zu suchen. Die CD erscheint in diesen Tagen, und natürlich sind die bekannten Schlaflieder von Mozart und Brahms auch mit dabei. «Aber wir haben auch Lieder ausgesucht, die niemand kennt. ‹Estrela› aus Brasilien etwa.»
Peretyatko mag, was mit ihrer Stimme passiert
So sind Songs in neun Sprachen zusammengekommen, inklusive Japanisch und Chinesisch – was für Peretyatko eine ziemliche Herausforderung war. «Aber es war mir wichtig, als Mutter ein Zeichen für die Verständigung unter den Menschen zu setzen.»
Drei Wochen nach der Geburt stand Olga Peretyatko in Baden-Baden schon wieder auf der Bühne. «Ich bin sportlich und fit, warum sollte das nicht gehen? Es war alles noch da, die Beweglichkeit, die Höhe, die Sicherheit.» Hinzu gekommen ist eine Portion Mut und Aufbruchstimmung. Endlich wagte sie sich an Tschaikowsky, den sie lange vor sich hergeschoben hatte. Mit dessen Liedern – «alle kleine Mini-Opern» – tastete sie sich an den Komponisten heran. Und Anfang Mai in Berlin sang sie die Maria in «Mazeppa» in konzertanten Aufführungen mit den Berliner Philharmonikern unter Kirill Petrenko.
Jetzt ist auch der Weg frei zur ersten Tatjana in «Eugen Onegin». «Aber natürlich will ich weiter Mozart und das Belcanto-Repertoire singen, gerne mehr Verdi. Wagner hingegen wohl noch lange nicht – oder vielleicht auch nie.» Sie mag, was im Moment mit ihrer Stimme passiert: «Farbe und Wärme sind dazugekommen, aber das hohe F der Königin der Nacht habe ich immer noch.»
Konzert
Konzert mit Olga Peretyatko
Lieder und Gesänge u.a. von Rachmaninow, Tschaikowsky, Mozart, Schumann, Puccini, Gershwin u.a. mit Semjon Skigin (Klavier)
Do, 27.5., 19.30
Hotel Schweizerhof Luzern
CD
Olga Peretyatko
Songs for Maya
Mit Semjon Skigin am Klavier
(Melodiya 2021)
Russische Musik in Luzern
Seit zehn Jahren organisiert das Luzerner Sinfonieorchester jeweils im Mai das Zaubersee Festival für wenig bekannte Musik aus Russland, um damit den Reichtum dieses Repertoires und die vielfältigen Verbindungen russischer Komponisten in die Schweiz in Erinnerung zu rufen. Dieses Jahr gastieren neben Olga Peretyatko die Cellistin Marie-Elisabeth Hecker mit Martin Helmchen am Klavier, der Pianist Alexander Malofeev und das Danel Quartett. Die Konzerte werden live gestreamt. Wenn es die Lage zulässt, werden sie kurzfristig für das Publikum geöffnet.
Zaubersee Festival
Do, 27.5.–So, 30.5., diverse Orte Luzern
www.zaubersee.ch