In knallroten High Heels kommt sie beim Schlussapplaus auf die Bühne, ein netter Akzent zum dezenten Hosenanzug und den zu einem strengen Zopf geflochtenen blonden Haaren. Dirigiert aber hat Speranza Scappucci nicht in diesen Lackschuhen, wie sie lachend betont, dafür ist sie viel zu praktisch veranlagt. Gleich nach der Premiere der frühen Puccini-Oper «Manon Lescaut» empfängt sie zum Interview und entschuldigt sich dafür, dass sie am nächsten Tag wirklich keine freie Minute habe. Die Leitungsposition beim Opernhaus im wallonischen Lüttich (Liège), die sie 2017 antrat, verlangt eben auch sehr viel administrative Arbeit. Ein intensives Gespräch entspinnt sich in knapp einer halben Stunde, bevor wir zur Premierenfeier aufbrechen.
In diesen 25 Minuten aber sagt sie mehr Interessantes als andere in eineinhalb Stunden. Zum Beispiel über Puccini, der in ihren Augen viel zu oft viel zu laut gespielt wird: «In seiner Partitur finden sich auf Schritt und Tritt Piano-Anweisungen. Das wird fast nie ernst genommen, dabei wusste Puccini genau, was er schrieb. Er wollte die Emotionen nicht auswalzen. Viel zu oft wird viel zu viel Sauce über Puccinis Melodien gegossen. Das kann sehr schnell vulgär wirken.» Oder über den Vollfett-Sound mancher Kollegen, den sie dezidiert auf den Punkt bringt: «Es macht keinen Spass, in einem Pool zu schwimmen, in dem sich das Wasser anfühlt, als wäre es Quark.»
Ihr offenes Lachen wirkt charmant und ansteckend, aber man sollte sich nicht täuschen lassen: Dieselben Augen können auch Funken sprühen, wenn sich im Orchestergraben ein Musiker allzu bequem an die Arbeit macht. Und wenn im Publikum getuschelt wird, dann kann es gut passieren, dass ein vernichtender Medusenblick über die Schulter die Schuldigen trifft.
Den Maestro Riccardo Muti überzeugt
Der Erfolg gibt ihr recht: Wo die gebürtige Römerin und Wahl-Wienerin auf dem Podium stand, begeisterte sie das Publikum und gerieten die Kritiker ins Schwärmen. Das Orchester in Liège war schon vor ihrem Antritt als Chefin eines der besten in Belgien, aber es hat noch ein deutliches Plus an Qualität hinzugewonnen, vor allem deswegen, weil man bei ihr nicht einfach drauflosspielen darf. Rigoros fordert sie auch in den schönsten Kantilenen nicht nur bei Puccini, sondern etwa auch bei Verdi oder in Bizets «Carmen» dynamische Disziplin und zeigt damit, dass diese Musik weit vielschichtiger ist als das platte Fortissimo-Gesülze, das man auch an erstrangigen Opernhäusern oft hört. Lautstärke hat nichts mit Spannung zu tun, sagt Scappucci, was nicht bedeutet, dass es unter ihren Händen nicht hin und wieder so richtig knallt – ihr italie-nisches Temperament verleugnet sie keineswegs. Aber diese Akzente entwickeln umso mehr Kraft, weil es davor und danach eben nicht laut ist.
Dem Klavier-Studium am Konservatorium in Rom folgten Ausbildungsjahre an der renommierten New Yorker Juilliard School. Danach begann Scappucci als Korrepetitorin an den Opern in Washington oder Santa Fe zu arbeiten, bis sie 2005 an die Wiener Staatsoper kam. Und dort traf sie auf Riccardo Muti. Scappucci übernahm den Cembalo-Part in Mozarts «Figaro» und überzeugte den Maestro so sehr, dass er sie als Assistentin zu den Salzburger Festspielen mitbrachte.
Mischung aus Perfektion und Pragmatismus
Irgendwann aber entstand der Wunsch, selber die musikalischen Fäden in die Hand zu nehmen. «Dirigieren war kein Kindheitstraum», sagt sie. «Es ist passiert. Ich kam immer weiter in diese Opernwelt hinein, habe Proben übernommen, und plötzlich merkst du, das kannst du ja.» Sie war glücklich als Pianistin, hat gerne Klavierkonzerte und Kammermusik gespielt, fühlte sich wohl in den Opernproben in ihrer Position als Begleiterin am Klavier. «Es war toll, mit diesen grossen Dirigenten zu arbeiten, aber irgendwann spürst du, dass da auch eigene Ideen sind.»
Sie wusste, wie der Opern-Betrieb funktioniert, und stellte sich darauf ein: «Man braucht einfach den Mut und die Hartnäckigkeit, den gewünschten Klang von den Orchestermusikern zu verlangen. Wenn man genug Proben hat, ist das kein Problem. Und an Häusern wie der Wiener Staatsoper, wo man nicht proben kann, muss man halt am Abend die Show hinkriegen.» Mit dieser Mischung aus Perfektionismus und Pragmatismus ist sie bisher sehr gut gefahren. Und hat auch keine Mühe damit: «Letztlich muss man zusammen zufrieden sein: Du kannst als Dirigentin viele gute Ideen haben, aber dann kommen die Sänger mit ihren Vorstellungen und Möglichkeiten, und dann kannst du nicht sagen: ‹Das ist mein Tempo, und basta.›»
Erstmals die Chance einer Premiere in Zürich
Das Opernhaus Zürich war schon bald ein Fixpunkt in der Karriere der 48-jährigen Dirigentin. Mit «La Fille du Régiment», einem Belcanto-Virtuosenstück von Donizetti, debü-tierte sie 2017, und auch Puccinis «La Bohème» leitete sie an der Limmat bereits mit grossem Erfolg. Und jetzt erhält sie zum ersten Mal die Chance, sich mit einer Premiere vorzustellen: «Lucia di Lammermoor», Donizettis düsteres Intrigen-Drama aus Schottland mit der berühmtesten Wahnsinnsszene der Operngeschichte. Darin ist die Russin Irina Lungu zu hören, die zentrale Tenor-Partie singt Piotr Beczala. Premieren in Zürich sind sehr gut geprobt – dem Scappucci-Sound steht also nichts im Weg.
Lucia di Lammermoor
Premiere: So, 20.6., 19.00 Opernhaus Zürich
Vorstellungen bis Mi, 30.6.
Stream
Ab So, 27.6., ist die Produktion kostenfrei auf Arte Concert
zu sehen www.arte.tv/de/arte-concert/