«Freu dich, es gibt wieder Konzerte!» Dauernd sagte ich es mir – und freute mich doch nicht, ging aber hin. Am 17. Juni nach Basel, am 19. Juni nach Zürich, am 21. gar nach Ravenna, wo Italiens Kulturherz wieder zu schlagen begann. Bald lud das Opernhaus Zürich zum Saisonfinale, und nun lockt gar der Festspielsommer: Ernen, St. Moritz, Salzburg, Verona, Ascona, Zermatt … Ach ja: Auch das Lucerne Festival hat sich zurückgemeldet und wird ab 13. August neun Tage lang spielen.
Mir wird angst und bange. Es ist nicht die Furcht vor dem Virus. Ich habe Angst, dass auch die kommenden Konzerte zu Corona-Happenings werden. Dass sie fern dessen sind, was Konzerte wirklich ausmachen. Dass das Virus die Kunst zu Klassik light macht. Kunst kann es nicht «ein bisschen» geben. Sie ist ein Mit-Haut-und-Haar-Verschlingen, ein Vom-Felsen-Hinunterstürzen, ein Hingeben auf beiden Seiten – im Publikum und auf der Bühne.
Eine Sinfonie ist ein Überwältigungsereignis
Dazu braucht es Gemeinschaft, einen Sitznachbar links, einen rechts. Wir gehen ein in kollektive Besinnung und geschlossene Ekstase: Schweiss, Spucke, Nähe, Wärme und Umarmung. Kunst gilt es emotional zu teilen, sie danach zu diskutieren. Eine Sinfonie ist ein Überwältigungsereignis, für das Tempel gebaut wurden, glanzvolle Säle, in denen es so schön ist wie in einem Cellobauch.
Der Kultur-Hunger wird nicht gestillt
Gewiss: Das Tonhalle-Orchester führte zum Saisonschluss Kammermusikwerke auf, die wir ohne Corona-Virus wohl nie gehört hätten. Und im Spiel war auch eine beeindruckende Intensität zu erleben. Im Basler Münster entdeckte ich dank Kleinbesetzung die Kammer-musikfassung von Bruckners 7. Sinfonie. Unglaublich, wie die Musiker des Sinfonieorchesters Basel sich in einen Rausch spielten. Aber es war ein Küchenradio-Bruckner. Ich möchte diese Fassung nie mehr hören – oder höchstens auf einer Alphütte bei einem runden Geburtstag.
Ich habe Angst vor diesen halben Sachen. Wie wenn ich in eine Römer Osteria ginge und bereits weiss, dass ich statt eines Tellers dampfender Spaghetti Carbonara im Kreis einer wild-fröhlichen Gesellschaft unbekannter Teilzeitfreunde neun Spaghetti mit Olivenöl in einem sterilen Saal serviert bekomme. Sie können noch so gut zubereitet sein – stillen werden sie meinen Hunger nicht, Emotionen auslösen schon gar nicht.
Nicht nur wir, die da traurig vor dem Einerli Roten sitzen, sind zu bemitleiden, sondern auch der Koch, beziehungsweise der Künstler. Bei den Salzburger Festspielen werden sie eingeteilt in eine rote, gelbe und orange Gruppe. Die Roten sind die ärmsten und glücklichsten, sie schreiten täglich durch Wasser und Feuer: «Bühnenakteure, welche die Abstandsregeln nicht einhalten und keinen Mund-Nase-Schutz tragen können», heisst es vonseiten der Festspiele. Die Angst der Veranstalter ist gross. Nichts fürchtet Salzburg mehr, als ein zweites Ischgl zu werden.
Zugegeben: Noch vor kurzem habe ich über die Innovation der kleinen Festivals, die trotz Einschränkungen spielen werden, gejubelt. Aber das waren die «Kleinen», deren Format ja gerade ihren Charme ausmacht: Dort sass man auch schon früher bisweilen auf einem Misthaufen und hörte himmlische Klänge.
Ein paar Privilegierte auf wenigen Plätzen
Aber jetzt sind die Grossen dran, jetzt sollen wir uns wieder im KKL und Opernhaus in die Sessel fläzen und das Beste vom Besten geniessen. Schon nur dieses Wir! Ein paar wenige Privilegierte sind es, die auf der reduzierten Anzahl Sessel sitzen und mehr sich selbst und ihre Präsenz als die Interpretation beklatschen. Sah es nicht schrecklich aus, wie in Wien im Juni ein Häufchen Prominenter und Kritiker den Wiener Philharmonikern lauschte?
Ich befürchte, dass weitere Konzerte so werden. Man ist gezwungen, froh zu sein, dass überhaupt etwas ist, das an früher erinnert. Womöglich darf man nach einem Konzert nicht mal mehr kritisch sein, muss vor dem Abgang einfach «Danke, habt ihr für uns gespielt» sagen.
Aber so funktioniert Kunst, dieser geistige Austausch zwischen den Menschen, nicht: Ohne uns ist Daniel Barenboim ein Nichts. Wir müssen ihm nicht Danke sagen, sondern über seine Kunst reden. Erst wenn es gelingt, über die äusseren Umstände hinwegzusehen und den Kern der Musik zu hören, kommen wir wieder in die Nähe eines Kunstereignisses.
Es gibt Hoffnung, dass Normalität einkehrt
«Früher», noch 2019, besuchte ich jeden dritten Abend ein Konzert, ein Theater oder eine Oper – 130 pro Jahr. Und nun, nach drei Monaten Entzug? Was hat sie ausgelöst, die fehlende emotionale Überwältigung? Ist der Seelenfrieden aus dem Lot? Denke ich anders, schlief ich schlechter? Ich höre besser auf zu fragen, bin ab jetzt einfach wieder der Musikkritiker, schreibe, ob etwas gut oder schlecht war. Und Sie, liebe Leserinnen und Leser, können sich wie immer darüber ärgern und freuen, oder zumindest diskutieren. Job erfüllt. Vorhang auf.
PS: Ende August wird die 1000er-Grenze fallen, der vorgeschriebene Abstand kleiner werden. Es gibt Hoffnung, dass Normalität einkehrt. Und es gibt viel Angst und Unsicherheit.