Zu schwer für die Küchenwaage ist die Box, aber einen Rekord zu vermelden gibt es trotzdem nicht. In dieser Hinsicht zeigte sich Mozart mit «Mozart225» im Jahr 2016 einmal mehr als «Weltmeister»: 200 gegen 123 CDs lautet das Resultat beim Vergleich «Mozart-Box gegen Beethoven-Box». Ein Vielschreiber war Beethoven (1770–1827) nicht: Haydn komponierte 104 Sinfonien, Beethoven 9; Mozart schrieb 22 Opern, Beethoven eine. Auf das Maximum reduzieren? Ja, Beethoven war sich in vielen Werken klar: Das ist es.
Wie eine Pralinenschachtel
Prächtig sieht die Box aus – und wie bei einer Pralinenschachtel weiss man nicht so recht, wo anfangen: Gibt es ein Werk, das man immer schon hören wollte, das sich aber weder auf Vinyl noch auf CD in der eigenen Sammlung befindet? Schwierig … Und schon schielt unsereins zu den Klassikern, will wissen: Wer spielt die Klavierkonzerte? Wer dirigiert die Sinfonien?
Das Violinkonzert gibt es in vierfacher Ausführung: Ein Who-is-Who der Geigenstars der Deutschen Grammophon: Wolfgang Schneiderhan, Anne-Sophie Mutter, Vadim Repin und Thomas Zehetmair streiten um die Opus-61-Krone. Doch bei dieser Hitparaden-Sicht merken wir, wie eigenartig unser Vorgehen ist. Im Regal zu Hause stehen viele dieser berühmten Aufnahmen. Warum dann diese kindliche Freude wegen der Box? Um WoO 94 (Werk ohne Opuszahl 94) zu hören, «Germania» aus Friedrich Treitschkes Singspiel? Oder um den Kanon «Ich bitt dich, schreib mir die Es-Scala auf», WoO 172 kennenzulernen? Oder WoO 2a, ein Triumphmarsch aus Christoph Kuffners Tragödie «Tarpeja»? Zur Faszination, dass da der «ganze Beethoven» drinsteckt, gehört nun mal auch das Erfassen dieser Raritäten.
Die erwähnten drei Kuriositäten sind aufgeführt unter dem Titel «Stage and Occasional» (Bühne und Gelegenheitswerke), was leider zeigt: Im Kosten machenden Zweifelsfall spricht die Deutsche Grammophon jetzt englisch. Und sogleich müssen wir an den Pianisten Fazil Say denken, der einst heftig darüber fluchte, dass ihm vorgeworfen wurde, er als Türke könne Beethoven nicht begreifen. «Haben die Deutschen diese Musik gepachtet!?», fragte er damals wütend.
Mit «Opus 1» gleich voll da
Immerhin sind die klugen Aufsätze zweisprachig. Zu lesen sind sie im prächtig gestalteten Begleitbuch. Hinzu kommt eine gut gemachte Chronologie, die zu (fast) jedem seiner Lebensjahre etwas weiss, sowie ein nett gemachtes «Leben in Bildern». Zu den einzelnen Werkgruppen gibt es klassische Booklets.
Überschrieben ist die Box mit der geheimnisvollen Chiffre «BTHVN». Des Rätsels Lösung? Bisweilen zeichnete Beethoven seine Werke so. Und es scheint, als hätte er gewusst, dass er einst ein Hashtag für die sozialen Medien brauchen würde: #BTHVN2020. Es gibt keine die Grundfeste erschütternden neuen Erkenntnisse zu Beethoven, aber einiges kann mit einem neuen Blick im Beethoven-Jahr 2020 klarer werden.
Beethoven machte komponierend nicht Schritt um Schritt, sondern er war damals mit seinem «Opus 1», einem Klaviertrio, 1795 gleich voll da. Der 25-Jährige übergibt das Werk dem 63-jährigen Joseph Haydn, und der Schöpfer von 45 Klaviertrios wird danach nie mehr eines schreiben. Zugegeben: Vorher hat Beethoven bereits Werke komponiert, etwa 1783 die sogenannte «Kurfürsten-Sonate». Aber er schreibt keine Opus-Zahlen darüber. Das tut er, als er weiss: Jetzt! Jetzt muss es sein. Dieser Komponist öffnet das Tor zum Künstlersein des 19. Jahrhunderts, durchaus zum romantischen Künstler, obwohl er ein Wiener Klassiker ist und bleibt.
Ausser spazieren und lesen, machte er wohl wenig neben der musikalischen Arbeit. Mit indischer Literatur beschäftigte er sich, wie uns seine Tagebuchnotizen verraten. Kant las er, Schiller wie Goethe, die er bewunderte. Seine Lebererkrankung aber, die kam ziemlich sicher vom vielen Trinken. Und ist sein Werk nicht bisweilen auch wie ein Suff?
Die Pathétique etwa? Die Mondscheinsonate? Die 4. Sinfonie?
Beethoven in all seiner Grösse
Im Tagebuch, so erfahren wir, schreibt Beethoven aber auch die erschütternden Worte: «Oh Gott! Gib mir Kraft, mich zu besiegen». Dieser Mensch soll nicht gläubig gewesen sein, wie einst von der Forschung kolportiert? Seine zwei Messen oder das Oratorium «Christus am Ölberg» sollen nicht vom Glauben durchdrungen sein? Gut, es gibt sonst keine anderen grösseren geistlichen Werke (aber durchaus das Lied «Die Himmel rühmen», op. 48/4), nicht jene Flut wie bei Haydn oder Mozart. Aber es gibt auch nur neun Sinfonien …
Sogar Ersteinspielungen kann die Box präsentieren: Etwa ein Menuett C-Dur WoO 218 und eine Rekonstruktion eines unvollendeten Streichquintetts – seine letzten notierten Noten. Die Deutsche Grammophon (und für die Box auch die Universal-Partner) hat Material genug, seit 1913 hat man rund 60 000 Minuten – 40 Tage – Beethoven aufgenommen. Das reicht acht Mal für die Box.
Und dann greifen wir zu – zuallererst nehmen wir CD Nr. 94 in die Hand, erinnern uns, vor Jahrzehnten mal irgendwo die Kantate auf den Tod Josephs II für Solo, Chor und Orchester WoO 87 gehört zu haben. Und siehe da: Beethoven in all seiner Grösse, Humanität und Willenskraft. Auf demselben Album zu finden: Die «Kantate auf die Erhebung Leopold des Zweiten zur Kaiserwürde», die da heisst «Cantata on the Accession of Empoero Leopold II».
Und kaum gehört, öffnen sich das nächste Beethoven-Türchen und unsere Ohren: Sinfonie Nr. 4 mit Dirigent Hans Schmidt-Isserstedt, aufgenommen in Wien 1966.
Auftakt zum Beethoven-Jahr
Konzert
Di, 10.12., 19.30
Tonhalle Maag Zürich
Das Zürcher Kammerorchester unter Daniel Hope läutet das Beethoven-Jahr ein
www.zko.ch
Fernsehen
3-sat-Thementag: «Tatatataa – 250 Jahre Beethoven»
Mi, 1.1., ab 06.05 3sat
24 Stunden lang Konzerte und Filme sowie die Oper «Fidelio»
www.3sat.de
CD-Box
Beethoven
The new complete Edition
123 CDs
(Deutsche Grammophon 2019)